Interview: Gaby Allheilig
Peter Messerli, Sie haben in den letzten zehn Jahren zusammen mit Thomas Breu das CDE geprägt. Wo sehen Sie bezüglich CDE den grössten Unterschied zwischen damals und heute?
Vor zehn Jahren standen wir vor einem Wendepunkt: Unser grosses Programm, der Nationale Forschungsschwerpunkt Nord-Süd, lief aus. Es hatte uns nicht nur viele Mittel, sondern auch viel Spielraum für die Forschung gegeben. So untersuchten wir etwa schon damals die Auswirkungen des globalen Wandels und wie man dabei Veränderungen bewirken kann. Uns war aber bewusst, dass es nicht einfach sein würde, danach wieder nach den «normalen» Forschungsgeldern suchen zu müssen. Dazu kam, dass wir bedeutende Mandate der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) hatten, bei dem wir unser Wissen in der Praxis umsetzen konnten. Doch auch einige dieser Aufträge standen vor dem Abschluss.
Wie war das für Sie?
Es war zum Teil etwas Schwindel erregend. Unsere Vorgänger und die Universität Bern bewiesen grosses Vertrauen, als sie uns diesen «Dampfer» übergaben und wir gleichzeitig zu einem der strategischen Kompetenzzentren der Universität wurden. Doch der Erwartungsdruck, ob und wie wir das Schiff schaukeln würden, war spürbar.
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«Ein CDE kann man nicht leiten. Das muss man ermöglichen»
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Was hat sich aus Ihrer Sicht am meisten verändert?
Zuerst dachten wir, dass wir nach Ablauf des Nationalen Forschungsschwerpunkts zu einer sehr kleinen Institution schrumpfen würden. Das Gegenteil war der Fall: Wir erhielten mehr Aufträge und wuchsen von damals rund 60 auf heute über 100 Mitarbeitende an. Das bedeutete, dass wir Verantwortung delegieren und neue Gravitationszentren innerhalb des CDE schaffen mussten. Ein CDE kann man ja nicht leiten, man muss es ermöglichen… Deshalb bildeten wir thematische Forschungsgruppen – unsere Cluster. Natürlich gab es in diesem Prozess Auf und Abs. Aber ich habe das Gefühl, es ist uns gelungen.
Was war dafür entscheidend?
Aus meiner Sicht war das Entscheidendste, dass wir in einem Strategieprozess zum Schluss kamen: Es ist nicht die Forschung hier und die Umsetzung in die Praxis dort, sondern wir wollen ein Wissen erarbeiten, das vom Systemischen der Wissenschaft bis hin zur konkreten Umsetzung reicht. Das war ein wichtiger Schritt, um auch die verschiedenen Teile des CDE unter einen Hut zu bringen.
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«Mit der Agenda 2030 kam punkto Nachhaltigkeit ein Revival»
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Als das CDE letztes Jahr sein 30-jähriges Jubiläum feierte, sagten Sie, das Zentrum habe mit der Forschung und Lehre zur nachhaltigen Entwicklung in einer Nische begonnen und befinde sich heute im Mainstream. Inzwischen gibt es etliche Institutionen in diesem Bereich. Aber kann man wirklich von Mainstream sprechen?
Während der letzten zehn Jahre stellten wir uns öfter die Frage, ob der Begriff nachhaltige Entwicklung zu einer solchen Worthülse geworden ist, dass wir uns von diesem Konzept verabschieden müssen. Alles war plötzlich nachhaltig. Aber leider haben wir auch feststellen müssen, dass sich die globalen Trends nicht zum Besseren gewendet haben. Vielmehr haben sie sich akzentuiert, sei es beim Klima, der Biodiversität oder den zunehmenden Ungleichheiten. Dann kam auf internationaler Ebene mit der Agenda 2030 ein Revival: Man hatte wieder den Mut, die Nachhaltigkeit wirklich ins Zentrum zu stellen. Das dafür nötige Wissen und entsprechende Lösungen sind in der Gesellschaft heute vermehrt gefragt.
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«Die Wissenschaft hat sehr viel zum Konsens beigetragen»
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Die Klimadebatte zeigt allerdings, dass Wissen nicht genügt, um Veränderungen zu erzielen. Was muss die Wissenschaft ändern, damit ihre Erkenntnisse Wirkung entfalten?
Ich würde das relativieren: Die Wissenschaft hat punkto Nachhaltigkeit trotz allem viel erreicht. In den Debatten um Klima, Biodiversität und Ungleichheiten hat sie sich zusammengerauft und mit einer Stimme gesprochen. So ist es gelungen, im Dialog mit Regierungen und internationalen Organisationen an der Klimakonferenz in Paris 2015 ein neues Übereinkommen zu verabschieden. So entstanden 2019 der erste globale Biodiversitätsbericht und der erste Weltnachhaltigkeitsbericht der UNO. Das sind grosse Erfolge, denn die Debatten sind in der Gesellschaft angekommen – und werden zumindest teilweise von der Politik wahrgenommen. Hier hat die Wissenschaft sehr viel zum Konsens beigetragen und kann auch in Zukunft daran anknüpfen.
Die Wissenschaft ist also insgesamt auf Kurs?
Natürlich gibt es Bereiche, in denen sie lernen muss, ihren Blick zu verändern. Wenn Gesellschaft und Politik sagen: «Ok, machen wir. Aber wie dämpfen wir den Klimawandel ab, ohne Ungleichheiten zu schaffen? Wie ändern wir die Ernährungssysteme, so dass nicht neue Probleme entstehen?» Das wirft für die Wissenschaft völlig neue Fragen auf und erfordert ein neues Denken.
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«Wir sollten mutiger sein, auch mit unvollständigem Wissen zu arbeiten»
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Was heisst das konkret?
Wir sollten mutiger sein, auch mit unvollständigem Wissen in die Erarbeitung von Lösungswegen einzusteigen und die Fragen gemeinsam mit andern Beteiligten entwickeln. Es gibt sehr viele Bereiche, in denen die wissenschaftlichen Fragen erst entstehen, wenn man sich um das Problem zu kümmern anfängt, wenn man mit den betroffenen Akteurinnen und Akteuren redet. Gerade bei vertrackten Problemen wie zum Beispiel der Energiewende oder der Frage, wie wir zu einem gerechteren Wirtschaftssystem kommen, ist das sehr wichtig. Diese Fragen sind stark mit Werten aufgeladen. Um Lösungen zu entwickeln, brauchen wir neue Formen der Zusammenarbeit und bei der Forschung auch eine fairere Verteilung zwischen den Industriestaaten und den Ländern des Südens. Denn wir können nicht einfach unsere Lösungen auf andere überstülpen.
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«International hat die Wissenschaft wunderbare Steilpässe erhalten»
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Wenn die Wissenschaft sich mehr in diese Debatten einbringen soll: Muss sie nicht mehr Klartext reden?
Grundsätzlich ja, aber ohne dass wir die wissenschaftlichen Grundprinzipien der Unabhängigkeit und Nachvollziehbarkeit der Argumente preisgeben. Die Frage ist ja nicht, ob sich die Wissenschaft mit Werten auseinandersetzt, sondern wie. Das heisst: Man muss sagen, auf welche Werte man die wissenschaftlichen Erkenntnisse bezieht. Und genau da wurden in den letzten fünf Jahren wichtige Grundlagen geschaffen – seien es Klimaziele, die Biodiversitätskonvention, die Agenda 2030, etc. Das waren politische Entscheide. Gleichzeitig sind es für die Wissenschaft wunderbare Steilpässe, jetzt damit zu arbeiten.
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«Die jetzige Pandemie war auch eine angesagte Krise»
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Man hört jetzt oft, es sei viel schwieriger, punkto Klima- oder Artenschutz eine Verhaltensänderung zu bewirken als bei der Corona-Krise. Die Begründung: Covid-19 betreffe uns jetzt und unmittelbar, während das andere noch in der Zukunft liege. Wie lässt sich die Dringlichkeit für eine nachhaltige Entwicklung vermitteln?
Die jetzige Pandemie war auch eine angesagte Krise. Vor zehn Jahren gab es zahlreiche Wissenschaftler, die sagten: Es ist nicht eine Frage ob, sondern wann es zu einer Pandemie kommt. Man hat das einfach ignoriert. Jetzt ist es eingetroffen und jetzt ist es existenziell. Wenn wir heute die Berichte zur Klimaerwärmung oder zum Biodiversitätsverlust lesen, sind es auch Zeiträume von zehn, zwanzig Jahren, bis es existenziell wird. Deshalb stellt sich schon die Frage: Warten wir solange, bis die Umweltprobleme oder wachsende soziale Ungleichheiten uns in existenzielle Nöte bringen – oder handeln wir jetzt?
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«Die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Akteuren steckt noch in den Kinderschuhen»
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Sie waren in den letzten drei Jahren Co-Vorsitzender des wissenschaftlichen Expertenrats, der 2019 den UNO-Bericht zur nachhaltigen Entwicklung verfasste. War das für Sie als Wissenschaftler der Höhepunkt?
Ja und nein. Es war die Chance, auf der höchsten Gouvernanz-Ebene – der UNO und dadurch auch bei der Weltbank, EU-Kommission und etlichen Regierungen – Gesprächspartner zu sein. Dabei haben wir im Expertenrat gemerkt, dass durchaus Platz vorhanden ist, mitzudenken, etwas zu bieten und Ideen einzubringen, die vorher kaum Raum hatten. In diesen Diskussionen wurde auch klar, wo die Hebel für die nötigen Veränderungen sind, wer wirklich etwas verändern und wie man dabei zusammenarbeiten kann. So gesehen war das schon der Höhepunkt.
Und was ist das «Aber»?
Die Flughöhe des Berichts ist sehr hoch. Er weist viele Wörter wie «man sollte» auf. Denn die Entscheide, was gemacht wird oder nicht, werden in den Ländern, Regionen und Dörfern gefällt – mit den jeweiligen Vertretern von Wirtschaft, Technologie, Politik oder Wissenschaft. Die Zusammenarbeit zwischen diesen verschiedenen Akteuren steckt jedoch noch in den Kinderschuhen. Das heisst: Von der Wirkung her war das Mandat nicht der Höhepunkt. Deshalb war es für mich Zeit, diese Ebene wieder zu verlassen und zu sagen: Ja, jetzt packen wir es nochmal an!
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«Mit Wissen Neuland zu beschreiten, hat mich immer angetrieben»
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Sie packen es neu an – als Direktor der Wyss Academy for Nature. Worauf freuen Sie sich besonders?
Mit Wissen an Veränderungen teilzuhaben und Neuland zu beschreiten, hat mich immer angetrieben. Deshalb freue ich mich enorm, dass wir mit Unterstützung des Philanthropen Hansjörg Wyss, der Universität und dem Kanton Bern experimentell arbeiten und absolut neue Formen der Zusammenarbeit für die nachhaltige Entwicklung von Mensch und Natur ausprobieren können – und dabei auch mal Fehler machen dürfen. Gleichzeitig habe ich aber auch grossen Respekt davor.
Wie wird die Zusammenarbeit mit dem CDE aussehen?
Den Ansatz der Wyss Academy können wir nur in der realen Welt wirklich testen. Würden wir das irgendwo auf dem Planeten tun, quasi indem wir dort mit dem Fallschirm landen, wären wir chancenlos. Deshalb gehen wir mit der Wyss Academy in die Regionen, wo das CDE schon lange präsent ist. Das ermöglicht es uns, mit dem bestehenden Wissen, den Partnerschaften und Netzwerken sowie dem Vertrauen zu arbeiten, die in den letzten 30 Jahren aufgebaut wurden. Diese Schnittstelle und die Zusammenarbeit mit dem CDE ist absolut wichtig. Als neue Nischenplayerin ist es für die Wyss Academy zudem essenziell, auf wissenschaftlicher Ebene mit dem «Mutterschiff» engen Kontakt zu pflegen und von dort gespeist zu werden – übrigens auch von den CDE-Mitgliedern sowie anderen Institutionen der Uni Bern, die punkto Nachhaltigkeit eine prominente Rolle spielen.
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«Ich bleibe dem CDE und seinem ‘Spirit’ verbunden»
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Was werden Sie am meisten vermissen?
Am meisten vermissen werde ich wohl die Menschen, mit denen ich täglich zusammengearbeitet habe. Und obwohl das CDE heute ein grösserer «Laden» ist, habe ich immer noch das Bild einer etwas verschworenen, im universitären Gebilde unkonventionellen Gruppe, die Wissen für einen Zweck produziert: den der nachhaltigen Entwicklung. Die Leute, die hier arbeiten, haben einen klaren Kompass an Werten, über die sie debattieren und für die sie sich engagieren. Dieser Spirit, verbunden mit einem kreativen Geist, macht das CDE aus. In diesem Umfeld habe ich mich immer sehr wohl gefühlt und bleibe ihm verbunden. So etwas neu aufzubauen, ist eine riesige Aufgabe, bietet aber auch die Chance zu schauen, was man vielleicht anders machen könnte und welche Fehler man selbst gemacht hat und nicht noch mal machen möchte. Man wird mit dem Alter ja etwas weiser (lacht).
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