«Korporationen sind wichtige Akteure in der Nachhaltigkeitsdebatte»

Gemeinschaftlich genutzte Güter haben in der Schweiz seit dem Mittelalter Tradition. Das Walliser Bergdorf Törbel schrieb damit sogar Wissenschaftsgeschichte. Doch wie steht es heute um kollektive Körperschaften und ihre Ressourcen in Bergregionen? Welchen Beitrag leisten sie zur nachhaltigen Entwicklung? Aus Fallstudien in den Kantonen Uri, Graubünden, Obwalden, Wallis und Tessin kommen Wissenschaftler*innen der Universitäten Bern und Lausanne jetzt zum Schluss: Aus dem «Swiss Lab» solcher Nutzungssysteme lassen sich auch Lehren für ähnlich gelagerte Organisationen andernorts ableiten.

«Das Denken in längeren Zeiträumen ist eine der wesentlichen Qualitäten von kollektiven Körperschaften»: Karina Liechti. Foto: CDE


Interview: Gaby Allheilig

Karina Liechti, Sie sind Co-Autorin des kürzlich veröffentlichten Buchs zu Korporationen und Bürgergemeinden in Schweizer Bergregionen, «Balancing the Commons in Switzerland – Institutional Transformations and Sustainable Innovations»; und Sie haben diese im Kanton Obwalden untersucht. Was macht solche Körperschaften in der heutigen Zeit – abgesehen von ihrer geschichtlichen Rolle – für die Forschung interessant?

Einerseits ist es ihre Langlebigkeit: Denn trotz teils massiven politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen über die Jahrhunderte hinweg haben es diese Körperschaften immer wieder geschafft, sich anzupassen oder die entsprechenden Prozesse aktiv mitzugestalten. Andererseits rufen sie unterschiedliche Reaktionen hervor: Man begegnet ihnen entweder mit Bewunderung, weil man sie als Repräsentanten einer Form der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen sieht – oder mit Skepsis, weil man sie als altertümliche Art der gesellschaftlichen Ordnung auffasst, die nicht mehr in unsere Zeit passt. Wir wollten wissen: Was ist an diesen Zuschreibungen dran? Was lässt sich über den Umgang solcher Körperschaften mit dem gesellschaftlichen Wandel lernen? Und: Ist die kollektive Nutzung von natürlichen Ressourcen wie Wälder und Alpen zukunftsfähig?

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«Korporationen und Bürgergemeinden erbringen viele Leistungen, die der ganzen Gesellschaft zugutekommen»

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Man kann die Korporationen auch noch anders sehen: Gerade in Bergregionen kämpfen sie mit Mitgliederschwund, mit der Abnahme der Alpwirtschaft und der Wertminderung von Holzprodukten. Ihr wirtschaftliches Überleben verdanken sie zu einem grossen Teil auch staatlichen Beiträgen. Werden so nicht künstlich Strukturen erhalten?

Korporationen und Bürgergemeinden erbringen viele Leistungen, die der gesamten Gesellschaft zugutekommen – gerade in der Alpweide- und Waldnutzung. Ich denke zum Beispiel an die Landschaftspflege oder die Naturgefahrenprävention durch den Erhalt von Schutzwäldern. Diese Leistungen sollten auch vergütet werden. Auch ist es so, dass in der Landwirtschaft ein grosser Teil der Beiträge an die einzelnen Betriebe innerhalb der Korporationen geht – und nicht an die Korporationen selbst, welche die Gemeingüter wie Alpweiden verwalten.

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«Eine wichtige Rolle der Korporationen ist es, Fürsprecher für Natur und Landschaft zu sein»

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Die Korporationen haben Marketing gelernt: Sie präsentieren sich als Hüter einer naturnahen Landschaft und pflegen das Image, zugunsten der Allgemeinheit zu handeln. Gleichzeitig teeren sie Alpwege zu oder bauen neue Forststrassen – zulasten von Biodiversität und Landschaftsqualität. Wie steht es wirklich um ihre Nachhaltigkeit?

Das ist tatsächlich ein grosses Spannungsfeld. Durch Erschliessungen oder Intensivierungsmassnahmen lässt sich die Wirtschaftlichkeit erhöhen, die Arbeitsbelastung reduzieren – oder sogar eine traditionelle Nutzung einer Alp erhalten. Gleichzeitig werden so aber auch Landschafts- oder Naturwerte beeinträchtigt, obwohl sich die Korporationen als Bewahrerinnen ihres Eigentums und nicht als gewinnorientierte Unternehmerinnen sehen. Sie müssen sich diesem Spannungsfeld stellen – das mussten sie übrigens schon immer – und den Dialog mit unterschiedlichen Interessensgruppen suchen. Natur und Landschaft brauchen Fürsprecher. Das ist meines Erachtens eine wichtige Rolle von kollektiven Körperschaften, auch in Zukunft.  

Sind Natur- und Landschaftsschutzorganisationen nicht besser positioniert, um diese Fürsprecherrolle einzunehmen?

Ich denke, es sind zwei Rollen, die sich ergänzen. Die Rolle der Umweltorganisationen ist es, auf Veränderungen aufmerksam zu machen, die sich negativ auf Natur und Landschaft auswirken – und zusammen mit betroffenen Akteuren Massnahmen vorzuschlagen, wie sich diese Werte erhalten lassen. Die Rolle der Korporationen und Bürgergemeinden hingegen ist es, die Perspektive der Bewirtschafter einzubringen und Naturwerte und Landschaftsqualitäten durch eine angepasste Nutzung aufrecht zu erhalten. Am Beispiel der Alpwirtschaft zeigt sich beispielsweise, dass sich durch die Bewirtschaftung der Alpen die Biodiversität erhöht hat.

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«Man fällt gemeinsam Entscheidungen, welche die nächsten Generationen einbeziehen»

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Eingangs haben Sie es schon angetönt: Unter dem Druck verschiedener Veränderungen haben sich die Korporationen angepasst und auch sich selbst verändert. Wie denn?

Das hängt sehr stark davon ab, in welcher Region sich die Korporationen und Bürgergemeinden befinden, welche Charakteristiken sie aufweisen und welche Strategien sie bei Veränderungen entwickelt haben. Bei vielen hat sich vor allem die Einkommensstruktur verändert: So geben einzelne Korporationen Boden im Baurecht ab und können mit den Zinsen ein Einkommen generieren. Oder sie haben ein Fernwärme-Heizkraftwerk in Betrieb genommen und nutzen das eigene Holz für die Energieproduktion. Andere Korporationen sind im Tourismus aktiv geworden. Durch die Diversifizierung können sie das Überleben sichern und vielleicht sogar weniger lukrative Nutzungen aufrechterhalten. Dies bringt aber auch soziale Veränderungen mit sich. Einige Korporationen definieren sich zum Beispiel nicht mehr ausschliesslich über die traditionellen Rollen der Alp- und Waldwirtschaft. Damit müssen sie sich auch mit der eigenen Identität auseinandersetzen – oder der Skepsis von aussen.

Die Publikation kommt zum Schluss, dass die Korporationen und Bürgergemeinden in den Schweizer Bergregionen Lehren für ähnlich geartete Körperschaften andernorts bereithalten. Welche sind das?

Von mir aus gesehen ist vor allem das Denken in längeren Zeiträumen eine der wesentlichen Qualitäten von kollektiven Körperschaften. Man fällt gemeinsam Entscheidungen, welche die nächsten Generationen einbeziehen. Das ist in der politischen und wirtschaftlichen Landschaft ja sonst nicht immer der Fall. Gleichzeitig sind die Korporationen als Beteiligte nah an der Ressource, womit ein Entscheid vielleicht «bodenständiger» und anwendungsorientierter ist, als wenn eine staatliche Stelle entscheiden würde. Aber natürlich gibt es auch hier Herausforderungen: Die lokalen dürfen ja auch nicht höheren Interessen übergeordnet sein. Ich denke da an Fragen der Ökologie, der Gleichberechtigung, der Partizipation.

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«Leider stehen kollektive Körperschaften in vielen Ländern im Ruf, altmodisch zu sein»

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Gibt es weitere Lehren, die auch für ähnlich gelagerte Körperschaften andernorts – auch international – wichtig sind?

Langlebige kollektive Körperschaften finden sich auf der ganzen Welt. In vielen Regionen des Südens gibt es solche in der Wanderweidewirtschaft oder bei Bewässerungssystemen. Leider standen und stehen sie bei vielen Regierungen beziehungsweise Behörden im Ruf, altmodisch zu sein – oder man spricht ihnen generell die kollektiven Eigentumsrechte ab. Entsprechend macht man ihnen das Leben schwer oder hat diese kollektiven Systeme bewusst zerstört. Zahlreiche Untersuchungen von Beispielen im globalen Süden zeigen, dass das nicht nur «Land Grabbing» sondern «Commons Grabbing» bedeutet. Die Schweiz ist deshalb eines der Vorbilder dafür, wie man kollektive Körperschaften mit ihren Ressourcenrechten als Partner anerkennen und ihre Stimme in den politischen Entscheiden einbeziehen kann. Diese Anerkennung ist äusserst wichtig.

Die Anerkennung schliesst Partizipation ein. Die Korporationen und Bürgergemeinden in der Schweiz stehen aber immer wieder in der Kritik, «geschlossene Gesellschaften» zu sein. Zugezogenen «Beisassen» ist es zwar möglich, gewisse Nutzungsrechte zu erlangen. Diese sind jedoch stark eingeschränkt. Ist die Partizipation so gesehen nicht eine einseitige Sache für Privilegierte?

Das kann man durchaus so sehen. Allerdings muss man auch sagen, dass heute vieles im Umbruch ist und die Korporationen und Bürgergemeinden unterschiedlich mit dem Thema «Mitgliedschaft» umgehen. Gewisse Körperschaften werben aktiv um neue Bürgerinnen und Bürger, wie zum Beispiel die Bürgergemeinde Chur. Andere sind geschlossen wie einige Korporationen im Kanton Obwalden. Hier spielt unter anderem die Sorge um den sozialen Zusammenhalt eine Rolle. Zudem sind die Privilegien in den Korporationen im Kanton Obwalden heutzutage ziemlich klein. Denn Produkte und Dienstleistungen wie Holz oder ein Sömmerungsplatz auf der Alp sind nicht mehr stark nachgefragt. Somit können heutzutage auch Landwirte die Sömmerungsweiden nutzen, die selber keine Korporationsbürger sind.

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«Sie müssen ihre aktive Rolle in der Ressourcennutzung behalten»

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Was muss sich Ihrer Meinung punkto Mitgliedschaft ändern?

Von mir aus gesehen müssen sich kollektive Körperschaften Gedanken machen, wie sie Menschen integrieren können, die sich engagieren wollen. Eine Zuzügerin sucht vielleicht gerade ein solches Engagement, während lokal möglicherweise Personalknappheit herrscht. Hier sollten die Körperschaften die Chance packen, dem Bedürfnis vieler Menschen nach Zugehörigkeit und Verbundenheit eine Türe zu öffnen. 

In welche Richtung müssten sich die heutigen Korporationen Ihrer Meinung sonst noch bewegen, damit sie auch in Zukunft noch ein Modell für nachhaltige Entwicklung sein können?

Das Wichtigste ist meines Erachtens, dass sie ihre aktive Rolle in der Ressourcennutzung behalten. Auf dieser Basis könnten sie auch ihre Tätigkeitsfelder erweitern, wie im Naturschutz und in der Landschaftspflege – aber auch in der Vermittlung von nachhaltiger Nutzung natürlicher Ressourcen. Auch haben die kollektiven Körperschaften das Potenzial, wichtige Akteure bei der Erreichung von nationalen Interessen zu werden, insbesondere dort, wo es um Strategien zur nachhaltigen Entwicklung geht – gerade in der Schweiz. Solch wichtige Akteure der Ressourcennutzung darf man nicht vergessen.

Herausgegeben von Tobias Haller, Karina Liechti, Martin Stuber, François-Xavier Viallon und Rahel Wunderli, Routledge: Abingdon, Oxon / New York 2021.

“Balancing the Commons in Switzerland: Institutional Transformations and Sustainable Innovations"

Die Publikation legt die Ergebnisse des interdisziplinären Forschungsprojekts SCALES dar, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützt wurde. Sie beleuchtet, wie institutionelle Veränderungen in der Verwaltung der kollektiven Körperschaften in die öffentliche Politik der jeweiligen Kantone und des Staates eingebettet sind. Dabei zeigt sie die Machtverhältnisse und sehr unterschiedlichen Wege auf, die lokale kollektive Organisationen und ihre Mitglieder beschritten haben, um mit dem Wertverlust der Commons und dem erhöhten Arbeitsaufwand für die Aufrechterhaltung der Körperschaftsverwaltung fertig zu werden.

Vom Walliser Bergdorf Törbel zum Nobelpreis

Die gemeinsame Bewirtschaftung von natürlichen Ressourcen in Schweizer Bergregionen weckt seit den 1970er Jahren das Interesse internationaler Wissenschaftler*innen. 1981 veröffentlichte Robert M. Netting mit «Balancing on an Alp» eine ethnologische Studie über die Lebensverhältnisse im Oberwallis. Mit seiner Arbeit trug er dazu bei, die Kulturökologie als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. 1990 schloss Elinor Ostrom mit «Governing the Commons» an. Sie bezog sich dabei u.a. auf Untersuchungen der Törbeler Allmende. Ihr ging es vor allem um die Regeln für die nachhaltige Nutzung von Weiden, Wäldern und den gemeinschaftlichen Unterhalt von Wegen und Wasserleiten. Nach ihren Studien zu Gemeingütern weltweit stellte sie die These auf, dass gemeinschaftliches Eigentum die natürlichen Ressourcen auf lange Sicht besser bewirtschaftet als privates oder staatliches Eigentum, wenn bestimmte Prinzipien erfüllt sind. 2009 erhielt sie für ihre Arbeit den Nobelpreis für Wirtschaft.