Wenn die Bedeutungen eines Orts aufeinanderprallen

Die Frage, wie man Land besser, gerechter und umweltschonender nutzen kann, stellt sich immer drängender. Dabei gehen die Vorstellungen jedoch oft stark auseinander, was ein bestimmter Ort ist, beziehungsweise was er in Zukunft sein soll. Anhand des Beispiels eines Naturreservats im US-Bundesstaat Oregon haben Forschende um den CDE-Wissenschaftler Micah Ingalls in einer Studie aufgezeigt, wie Landnutzung, Macht und Ortsansprüche zusammenwirken – und sozio-ökologische Entwicklungen über lange Zeit prägen können.

Malheur National Wildlife Refuge
Sagebrush Sea, Malheur National Wildlife Refuge, Oregon, USA. Foto: shutterstock.com / William T. Smith


Micah Ingalls, Gaby Allheilig

Manchmal sagt ein Ortsname schon fast alles: Malheur. Der Legende nach verdanken die Hochwüste im US-Bundesstaat Oregon und der gleichnamige Fluss ihre Bezeichnung französischen Trappern und Händlern, die auf der Jagd nach Pelzen von Indianern angegriffen wurden. Der Stellenwert bzw. die Bedeutungen, welche die Gegend erhalten sollte, gehen jedoch weit über dieses Ereignis hinaus.

 

Am 2. Januar 2016 besetzen bewaffnete Viehzüchter das Verwaltungsgebäude des Naturschutzreservats Malheur National Wildlife Refuge. Angeführt von einem Mitglied einer paramilitärischen Bewegung verlangen sie: Das Land, das Präsident Roosevelt 1908 zum Naturschutzgebiet erklärt hatte, müsse den Ranchern als Weideland zurückgegeben werden. Zumal sie dieses seit Anfang des 19. Jahrhunderts genutzt hatten. Bei ihrem Anspruch auf das Territorium übersehen die Besetzer geflissentlich, dass ursprünglich ein Paiute-Stamm dieses Land besiedelte, der im Zuge der Eroberung des Westens vertrieben worden war.

In den USA warf die Revolte der Rancher grosse Wellen, nach 41 Tagen endete sie in einer gewalttätigen Konfrontation zwischen Aufständischen und Polizei. Die Anführer wurden zunächst verhaftet, später aber in den gegen sie erhobenen Anklagen freigesprochen.

Los Angeles Times, 11. Januar 2016


Weideland, Heimat oder Wildnis?

Nachdem der Streit um den Status von Malheur als Naturschutzgebiet mehr als ein Jahrhundert lang geschwelt hatte, brachte der Konflikt von 2016 plötzlich die widersprüchlichen Bedeutungen des Ortes ans Licht: Für die Viehzüchter war der Ort ihr rechtmässiges Weideland, für die Paiute angestammte Heimat, für die US-Regierung und Naturschützer öffentliches Land bzw. ein Paradies für Zugvögel – und für einen Grossteil der amerikanischen Gesellschaft eine der letzten Bastionen der hochmythologisierten amerikanischen Wildnis.

Moorhuhn-Henne im Malheur National Wildlife Refuge. Foto: shutterstock.com / William T Smith
Braunhals-Säbelschnäbler im Malheur National Wildlife Refuge. Foto: Barbara Wheeler, U.S. Fish and Wildlife Service Headquarters


Verankert in Zeit und Raum

Der Aufstand verdeutlichte aber auch: Unterschiedliche Gebietsansprüche sind oft nicht nur tief in der Geschichte, sondern auch in Prozessen verwurzelt, die nur wenig mit lokalen Ereignissen zu tun haben. In dem Konflikt von 2016 vermischten sich denn auch Entwicklungen, die ihren Ursprung jenseits von Malheur hatten – nämlich in der Ausbreitung der USA nach Westen, der Landnahme durch Siedler, Viehzüchter und Holzfäller sowie den Beschlüssen in Washington, was mit diesem Land zu geschehen hat. Pikantes Detail: Selbst die Wortführer der Revolte von 2016 waren keine lokalen Viehzüchter, sondern bekannte regierungsfeindliche Militia-Aktivisten aus Nevada, die zusammen mit ihren Gewehren auch ihre Ideologie nach Malheur getragen hatten.

Paiute


Zugang, Nutzen und Verteilung von Ressourcen

Doch was hat die komplexe räumliche und zeitliche Geschichte von Malheur mit der Transformation zur nachhaltigen Entwicklung zu tun? Zunächst macht sie klar, dass die unterschiedlichen Bedeutungen eines Ortes zu divergierenden, oft konfliktbeladenen Gebietsansprüchen führen können, die immer wieder aufflackern. Es ist gut möglich, dass ein Ort – wie in diesem Beispiel – während langem als Naturreservat genutzt wird. Trotzdem kann die sinnvoll erscheinende Lösung unter Umständen plötzlich bedroht sein.

Luftaufnahme vom Malheur National Wildlife Refuge. Foto: shutterstock.com / Russ Heinl


Bei genauerer Betrachtung stellen sich deshalb die Fragen, wie und von wem die Bedeutung eines Ortes definiert wird, welche Folgen dies für seine Nutzung hat, wie er verwaltet werden soll – und mit welcher Absicht. Denn die sozialen Bedeutungen, die ein Ort erlangt, schlagen sich auch in Eigentums-, Zugangs- und Nutzungsrechten an Ressourcen sowie in deren Verteilung nieder.

Auseinandersetzungen bieten auch Chancen für Neues

Auseinandersetzungen um die Bedeutung eines Ortes, die wie in Malheur in einen offenen Konflikt münden, mögen sehr destruktive Folgen haben. Gleichzeitig bieten sie aber auch Chancen, alte Ansprüche – in diesem Fall etwa der Paiute, aber auch der traditionellen Viehzüchter – aufzudecken und scheinbar gesicherte Annahmen zu revidieren. Im besten Fall führen sie dazu, dass sich innovative Lösungen für eine nachhaltige Entwicklung aushandeln lassen.

Auf der Suche nach möglichst tragfähigen und gerechten Systemen für die Gegenwart und Zukunft gilt es also, genau hinzuschauen, was ein Ort bedeutet, bedeuten könnte und wer welche Ansprüche darauf geltend macht.

Rolle der Wissenschaft kritisch beleuchten

Dabei sind nicht nur Politik und Gesellschaft, sondern auch die Wissenschaft gefordert. Ohne Auseinandersetzung mit den sozialen Narrativen und Machtverhältnissen, die einen Ort prägen, wird ihr Beitrag wenig Wirkung erzielen. Auch muss sie sich kritisch damit auseinandersetzen, welche Bedeutungen sie Orten zuschreibt und welche Rolle sie in den Konflikten spielt, die die Ansprüche anderer produzieren, legitimieren oder auslöschen.

When places collide: Power, conflict and meaning at Malheur

Ingalls M, Kohout A, Stedman RC, 2019, in: Sustainability Science