«Wenn wir in diesem Tempo weiterfahren, sind wir bis 2050 nirgends»

«Der Bundesrat will mit dem Bummler in eine bessere Welt», meldete Alliance Sud, der entwicklungspolitische Arm der Schweizer Hilfswerke, kürzlich. Grund: Der Bundesrat hat Anfang Mai seinen zweiten Länderbericht zur Umsetzung der UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung publiziert. Macht die Schweiz tatsächlich (fast) keine Fortschritte in Sachen Agenda 2030? Christoph Bader, CDE-Wissenschaftler und Ökonom, hat den Bericht wissenschaftlich begleitet und sagt: «Er spricht zwar vieles an, zieht aber nicht den logischen Schluss, dass wir radikal etwas ändern müssen.»

«Wir müssen damit aufhören, den Staat nur als Ersatzspieler zu sehen, wenn die Marktkräfte versagen, und anerkennen, dass er aktiv Innovationen anstossen kann»: Christoph Bader. Foto: Manu Friederich


Interview: Gaby Allheilig

Nach vier Jahren hat der Bundesrat den zweiten Länderbericht vorgelegt, in dem er darlegt, wie weit die Schweiz punkto Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 ist. Vor vier Jahren wurde der Bericht sehr kritisch aufgenommen. Hat der Bund Fortschritte gemacht?

Da müssen wir zwei Bereiche unterscheiden: Zum einen geht es um den Einbezug der verschiedenen Akteure sowie um den Zugang zu und die Transparenz der Daten. Hier hat es Fortschritte gegeben. So steht zum Beispiel eine neue Onlineplattform zur Verfügung, welche die im Länderbericht in Kurzform dargestellten Ergebnisse mit zusätzlichen Daten und Darstellungen transparent ergänzt. Das darf man als Erfolg werten.

______________________________________________________________________________

«Man hat erstmals berücksichtigt, dass die Ziele sich gegenseitig beeinflussen»

______________________________________________________________________________

Ein weiterer wichtiger Punkt: Man hat jetzt erstmals berücksichtigt, dass sich die einzelnen Ziele der Agenda 2030 gegenseitig beeinflussen – zum Beispiel in den Zusammenhängen von Landwirtschaft, Produktions- und Konsummustern, der Bekämpfung des Klimawandels und intakten Ökosystemen. Solche Wechselwirkungen können sich im positiven Sinn verstärken oder im negativen Fall zu Zielkonflikten führen, die man verringern muss. Vom CDE her hatten wir einen wesentlichen Anteil daran, dass das jetzt aufgezeigt wurde und man nicht mehr versucht hat, die Agenda 2030 als Aufzählung verschiedener isolierter Ziele zu sehen.

Sie sagten, man müsse bei der Bilanz zwei Bereiche unterscheiden. Was ist denn der zweite?

Da geht es um die Berichterstattung über die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 an sich. Es lassen sich zwar erste vorsichtige Versuche für eine kritischere Herangehensweise als 2018 feststellen: Man schildert Herausforderungen und bezieht teilweise die Auswirkungen der Schweiz auf andere Länder mit ein. Aber insgesamt legt der Bericht zu wenig die Finger auf die wunden Punkte. Heikle Fragen wie das Verständnis von Wirtschaftswachstum, die Steuerpolitik oder die Auswirkungen des Finanz- und Rohstoffhandelsplatzes werden nicht erwähnt. Dazu kommt, dass häufig zu vage oder unklar beschrieben wird, wo wir punkto Umsetzung tatsächlich stehen.

___________________________________________________________________________________

«Man sagt nur, ob der Trend stimmt – aber nicht, ob es auch rasch genug geht»

___________________________________________________________________________________

Zum Beispiel?

Man sagt nur, ob der Trend stimmt oder nicht, zeigt aber nicht auf, ob die Verbesserungen auch rasch genug bzw. in ausreichendem Mass stattfinden, damit wir die Ziele innert gebotener Frist erreichen. Wenn wir das Klimaziel des Bundes von netto Null Treibhausgasemissionen bis 2050 erreichen wollen, so muss der Trend sich auf dieses Ziel beziehen. Der Bericht aber verbucht die knapp 6 Prozent Treibhausgas-Reduktion in der Landwirtschaft, die wir in den letzten 20 Jahren erreicht haben, als positiv. Dabei ist völlig klar: Wenn wir in diesem Tempo weiterfahren, sind wir bis 2050 nirgends.

Können Sie diese Reportingpraxis noch an einem anderen Umweltziel festmachen?

Der Bundesrat hat sich zum Beispiel seit den 1990er Jahren wiederholt verschiedene Ziele zur Reduktion der Stickstoffemissionen gesetzt. Im Jahr 2000 belief sich die Stickstoffbilanz der Schweizer Landwirtschaft auf 100'000 Tonnen. Heute stehen wir bei rund 90'000 Tonnen. Wir sind also auch hier noch nirgends. Doch der Länderbericht ordnet das als «richtig unterwegs» ein. Das ist einfach ungenügend.

______________________________________________________________________________________

«Die heissen Eisen hätte man in der Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 anpacken müssen»

______________________________________________________________________________________

Mal ehrlich: Wenn wir feststellen, dass Ziele und Indikatoren besser formuliert werden müssten und dass es Wechselwirkungen zwischen der Landwirtschaft und den Treibhausgasemissionen gibt – was bringt das, wenn wir gleichzeitig wissen, dass die heissen Eisen nicht angefasst werden und die nötigen tiefgreifenden Reformen ausbleiben?

Der Länderbericht ist weder ein strategisches Dokument noch ein Aktionsplan. Er ist ein reines Reporting-Dokument. Die heissen Eisen hätte man letztes Jahr in der Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 anpacken müssen. Darin zeigt der Bund auf, welche Schwerpunkte er für die Umsetzung der Agenda 2030 setzen will. Heisse Eisen wurden da aber keine angefasst, obwohl sie von vielen – auch von uns – in der Vernehmlassung angesprochen worden waren. Dass praktisch nichts von all den Vorschlägen in die Strategie einfloss, ist nicht dem Länderbericht anzulasten.

Wieviel Einfluss hatten Sie auf den diesen Bericht?

Wir hatten keinen Einfluss auf den Inhalt und auch nicht darauf, welche Ziele und Indikatoren ausgewählt wurden. Wir hatten ein Mandat, die Wechselwirkungen zwischen den Zielen darzustellen. Vieles davon wurde angenommen, anderes blieb im Prozess hängen.

____________________________________________________________________________

«Die Wissenschaft trägt dazu bei, dass Politik und Gesellschaft wissensbasierte Entscheidungen treffen können»

____________________________________________________________________________

Wozu braucht es denn überhaupt eine wissenschaftliche Begleitung des Berichts?

Die Wissenschaft trägt dazu bei, dass Politik und Gesellschaft wissensbasierte Entscheidungen treffen können. Mit der Darstellung von Wechselwirkungen haben wir versucht, Hebel aufzuzeigen, wo es sinnvoll wäre, Kräfte und Ressourcen zu mobilisieren und zu bündeln. Um beim Beispiel Landwirtschaft zu bleiben: Hier ist unser Fleischkonsum sicher ein wichtiger Hebel. Würden wir den Konsum auf ein tieferes Niveau bringen, indem wir uns an unsere lokal verfügbaren Ressourcen hielten, würden wir die Umwelt schonen und unseren negativen Fussabdruck im Ausland – beispielsweise in Brasilien – deutlich senken. Ausserdem hätte das positive Effekte auf unsere Gesundheit, zumal Krankheiten wie Diabetes oder Darmkrebs oft auch auf einen übermässigen Fleischkonsum zurückzuführen sind. Kurz: Weniger Fleischkonsum und weniger Tiere hätten positive Multiplikatoreneffekte.

___________________________________________________________________________________

«Die Ausbeutung des Menschen und die strukturellen Probleme, die unser Wirtschaftssystem verursacht, tastet die Kreislaufwirtschaft nicht an»

____________________________________________________________________________________

Auffällig am Bericht sind nicht nur zahlreiche vage Formulierungen, sondern auch gewisse Auslassungen – beispielsweise punkto Wirtschaft: Während sich der Bericht zu Sinn und Zweck des ständigen Wirtschaftswachstums ausschweigt, scheint man – wie andere auch – auf das Zauberwort Kreislaufwirtschaft zu setzen. Ist diese tatsächlich der Stein der Weisen, um unsere Krisen zu lösen?

Im Bericht wird das Wirtschaftswachstum tatsächlich sehr oft erwähnt, aber nirgendwo steht, was man damit genau meint. Die Gefahr besteht, dass man einfach weiterfahren will wie bisher – auf Kosten anderer und der Umwelt. Der Begriff der Kreislaufwirtschaft wiederum wird von vielen als Heilsversprechen eingesetzt, nach dem Motto: «Wenn wir die Kreislaufwirtschaft einführen, haben wir unsere Probleme gelöst.» Die Kreislaufwirtschaft hilft, unsere Wirtschaft zu dekarbonisieren, ja – und das brauchen wir auch. Damit lässt sich die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen abschwächen oder gar beseitigen. Aber die Ausbeutung des Menschen und die strukturellen Probleme, die unser Wirtschaftssystem verursacht, tastet die Kreislaufwirtschaft mitnichten an. Darum ist es wichtig, dass sie kritisch reflektiert wird.

Wie denn?

Mittlerweile gibt es etliche Forschungsarbeiten, die eine suffizienzbasierte Kreislaufwirtschaft diskutieren. Das heisst: Wir müssen uns fragen: Was und wie viel benötigen wir tatsächlich und wozu? Das führt uns zu Fragen über unser Verhältnis zu Produktion und Konsum und letztlich zu einem anderen Verständnis von Wirtschaftswachstum und auch zur Frage, wie der Wohlstand verteilt wird.

______________________________________________________________________________

«Wir müssen aus dem engen, ökonomischen Reduktionismus herauskommen»

______________________________________________________________________________

Kreislaufwirtschaft bedingt – so oder so – Innovationen. Wo haben wir in der Schweiz die Hebel dafür?

Ideen und Ansätze dafür gibt es zum Teil schon länger. Einerseits müsste man dafür gewisse Regulierungen lockern, was auch im Gange ist. Andererseits müssen wir unser Verständnis von der Rollenteilung zwischen Markt, Staat und Netzwerken grundsätzlich überdenken. In den letzten Jahrzehnten liess man die Marktkräfte spielen und sah im Staat nur den Ersatzspieler auf der Bank, der zum Einsatz kommt, wenn in der 90. Spielminute etwas schiefläuft. Wenn wir aber an der Anzeigetafel auf den Punktestand schauen, stellen wir fest: So gut kann es der Markt auch nicht. Deshalb müssen wir aus dem engen, ökonomischen Reduktionismus herauskommen.

Was meinen Sie damit?

Für vieles, das wir jetzt rasch umsetzen müssen, sind die Anfangsinvestitionen und die Risiken zu hoch, als dass Private einsteigen würden. Der neueste Klimabericht zeigt klar, dass sich das Klima schon bis 2025 über 2,5 Grad erwärmt, wenn wir unsere Investitionen in erneuerbare Energie nicht um das Drei- bis Vierfache steigern. Würden wir auf jedem Dach Solarpanels installieren, wäre schon viel gewonnen. Aber bei der Frage nach der Finanzierung bleiben wir im alten Muster stecken. Wenn wir den Staat als aktiven statt als Ersatzspieler einsetzen und anerkennen, dass er Innovationen anstossen kann, lässt sich das rasch finanzieren. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato hat ja anhand des Smartphones aufgezeigt: Technische Innovationen wie das Internet, Mikrochips oder Touchscreen, die ein Riesenkapital brauchen, lassen sich nur tätigen, wenn der Staat sich daran beteiligt. Mit einer staatlichen Bank für die ökologische Transformation, wie dies jetzt parlamentarische Motionen verlangen, könnte man allen, die wollen, den Kredit für ein Solardach – um bei diesem Beispiel zu bleiben – finanzieren.

__________________________________________________________________________________

«Der Bericht scheint mir ein letzter, eher verzweifelter Versuch, an alten Paradigmen festzuhalten»

__________________________________________________________________________________

Kommen wir zum Länderbericht der Schweiz zurück. In der offiziellen Version heisst es dort: «Die Schweiz ist hinsichtlich vieler Ziele bereits weit fortgeschritten.» Wo stehen wir punkto Umsetzung der Agenda 2030 Ihrer Meinung nach wirklich?

Meine ganz persönliche Meinung? Wenn wir bis 2050 die Umweltprobleme gelöst haben sollten, stehen noch andere an – wie die Beseitigung von Armut und Ungleichheiten. So gesehen, scheint mir der Länderbericht ein letzter, eher verzweifelter Versuch, an alten Paradigmen festzuhalten. Er spricht zwar vieles an, zieht aber nicht den logischen Schluss, dass wir radikal etwas ändern müssen. Das erinnert mich an die treffende Umschreibung des Kassandra-Syndroms von Hans Jonas, dem Autor von «Das Prinzip Verantwortung»: «Ob es ein Rezept gibt, ob es ein Heilmittel gibt, ob es einen ansehbaren Weg gibt, ob die Drohung, die uns ins Auge starrt, vielleicht abzuwenden ist? Dies ist wahrscheinlich das, was jeder am liebsten wissen möchte. Und zugleich das, was wir am wenigsten liefern können. (…) So müssen wir wohl als wahrscheinlich erwarten, dass die Menschen (…) weiterhin wie die Lemminge auf den Abgrund zulaufen. Freilich: insgeheim hofft Kassandra, dass sie nicht Recht behält.»

Der Online-Länderbericht der Schweiz 2022

Halbzeit bei der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung

2015 haben die UNO-Mitgliedsstaaten die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verabschiedet. Wie sieht der Stand der Umsetzung bei Halbzeit aus? Ist eine Pause angesagt oder braucht es mehr Tempo in der verbleibenden Zeit? In einer kleinen Interviewserie gehen wir diesen Fragen nach und beleuchten einige der Diskussionspunkte aus wissenschaftlicher Sicht.