«Wir brauchen ein Rechtssystem für das 21. Jahrhundert»

Konzerne mit Sitz in der Schweiz sollen auch bei ihren Aktivitäten im Ausland sicherstellen, dass sie die Menschenrechte respektieren und Umweltstandards einhalten: Das verlangt die Konzernverantwortungsinitiative, über welche die Schweizer*innen am 29. November 2020 abstimmen. Die Debatten über mögliche Folgen verlaufen äusserst kontrovers. Doch wie viel würde sich mit Annahme des Volksbegehrens tatsächlich ändern? Und was bedeutet ein Ja oder Nein für die Rolle der Schweiz punkto nachhaltiger Entwicklung? Eine Einordnung aus juristischer Sicht mit Elisabeth Bürgi Bonanomi, Rechtswissenschaftlerin am Centre for Development and Environment, Universität Bern.

«Bei der nachhaltigen Entwicklung geht es immer darum, schädliche Entwicklungen zu unterbinden und sinnvolle zu fördern»: Elisabeth Bürgi Bonanomi. Foto: Manu Friederich


Interview: Gaby Allheilig

Elisabeth Bürgi, Sie beschäftigen sich wissenschaftlich unter anderem mit der Frage, wie sich das Rechtssystem und die politischen Rahmenbedingungen der Schweiz auf Entwicklungs- und Schwellenländer auswirken. Eignet sich die Konzernverantwortungsinitiative dafür, dass die Unternehmenstätigkeiten aus der Schweiz in diesen Ländern nachhaltiger werden?

Die Initiative bezieht sich auf eines von mehreren Elementen, die es braucht, um nachhaltige Unternehmenstätigkeiten im globalen Süden zu fördern. Sie unterstreicht, dass ein Unternehmen ernsthafte Schäden zu verantworten hat, die es verursacht. Dieses Prinzip ist im Grunde schon heute im Zivilrecht verankert. Die Initiantinnen und Initianten möchten aber bestätigt wissen, dass die Haftungsregel auch für transnationale Aktivitäten von Konzernen gilt.

Wo steht das im Gesetz?

Die Initiative lehnt sich an die Geschäftsherrenhaftung an, die in Artikel 55 des Obligationenrechts geregelt ist. Diese sieht vor, dass ein Unternehmen haftet, wenn es selbst oder eine «Hilfsperson» widerrechtlich einen Schaden verursacht hat. Nach überwiegender Lehre und Rechtsprechung kann die Hilfsperson auch eine juristische Person, also beispielsweise eine Tochterfirma, sein. Die Geschäftsherrenhaftung macht auch nicht an der Landesgrenze halt. Wegen verschiedener Verfahrenshindernisse kommt der Artikel bei transnationalen Tätigkeiten allerdings heute nur wenig zur Anwendung.

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 «Sollte es zu mehr Prozessen kommen, bietet dies den Unternehmen Gelegenheit zu zeigen, dass sie sorgfältig vorgehen»

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Bislang kam es nur zu wenigen Justizfällen gegen Muttergesellschaften. Welche Verfahrenshindernisse spielen da eine Rolle?

Die Fälle, die es bisher gab – wie Nestlé im Fall Kolumbien –, wurden zum grössten Teil wegen Verjährung eingestellt. Das Schweizer Haftpflichtrecht schreibt vor, dass ein Schaden innerhalb eines Jahres geltend gemacht werden muss. Hinzu kommen weitere Verfahrenshindernisse: Die Geschädigten müssen Beweise erbringen, die glaubwürdig sind. Das ist ziemlich schwierig, wenn sich das Ereignis weit weg zugetragen hat; das Gericht muss auf fremdsprachige Dokumente abstellen und kann keinen Augenschein vornehmen. Und schliesslich sind solche Verfahren teuer. An all diesen Punkten rüttelt die Initiative nicht.

Das Risiko, dass es mit der Initiative zu einer Prozessflut kommt, scheinen die Initiativ-Gegner aber anders einzuschätzen.

Ja, sie warnen davor, dass es zu zahlreichen Verfahren kommen könnte, die von NGOs angestrengt würden. Tatsächlich haben zivilgesellschaftliche Organisationen bislang noch wenige solche Prozesse eingeleitet. Da diese sehr kostenintensiv sind, sind sie auch bei Annahme der Initiative nur in schwerwiegenden Fällen zu erwarten. Zudem argumentieren die Kritiker der Initiative, es sei unklar, wann genau internationale Menschenrechte und Umweltstandards verletzt würden. Das stimmt – diesen Punkt müsste man auf Gesetzesebene konkretisieren. Falls es tatsächlich zu mehr Prozessen kommen sollte, bietet dies den Unternehmen Gelegenheit, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass sie sorgfältig vorgehen. Damit können sie sich legitimieren – was in der politischen Debatte allerdings zu wenig diskutiert wird.

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 «Die Vorgabe, eine Sorgfaltsprüfung entlang der ganzen Wertschöpfungskette durchzuführen, dürfte auch präventive Wirkung entfalten»

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Was fällt Ihnen in der Debatte sonst noch auf?

Rechtliche Kategorien werden im aktuellen politischen Diskurs zum Teil nicht korrekt angewandt. So heisst es beispielsweise, die Initiative hätte eine Beweislastumkehr zur Folge. Der Begriff wird jedoch falsch verwendet. Es ist die geschädigte Person, welche die Beweislast trägt, nicht das Unternehmen. Die oder der Betroffene muss nachweisen, dass der Schaden eingetreten ist, dass dieser mit der Unternehmenstätigkeit zu tun hat und diese gegen das Recht verstösst. Erst wenn das bewiesen und die Haftung vom Grundsatz her begründet ist, kommt das Unternehmen zum Zug. Es kann sich exkulpieren, also entlasten, wenn es beweist, dass es genügend Sorgfalt walten liess und im Rahmen seiner Möglichkeiten nicht mehr tun konnte, um den Schaden zu vermeiden. Diese Sorgfaltspflicht erstreckt sich auch auf die von ihm kontrollierten Unternehmen. Das ist aber keine Beweislastumkehr, sondern eine Möglichkeit, sich von der Haftung zu befreien.

Was ändert sich denn aus rechtlicher Sicht, wenn die Initiative angenommen wird?

Neu ist, dass Unternehmen eine Sorgfaltsprüfung entlang der ganzen Wertschöpfungskette vornehmen und Massnahmen ergreifen müssen, um Verletzungen von Menschenrechten und Umweltstandards zu verhindern. Sie müssen sich also ernsthaft überlegen, wie sich ihre Tätigkeit unter heiklen Gegebenheiten auswirken und sie verantwortungsvoll vorgehen können. Diese Bestimmung dürfte auch präventive Wirkung entfalten.

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«Die Schweiz hat im Moment noch die Chance, den Prozess mitzugestalten, indem sie eigene Regelungen schafft»

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Wie steht es auf internationaler Ebene: Geht die Schweiz tatsächlich weiter als andere Länder?

Nein, das kann man so nicht generell sagen. Ausgehend von den UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte von 2011, die nicht zuletzt in Zusammenarbeit mit namhaften Unternehmen entstanden sind, hat zum Beispiel die EU ihre Mitgliedstaaten aufgefordert, ihre Rechtssysteme anzupassen. Verschiedene europäische Länder haben das bereits gemacht oder sind daran, es zu tun. Dabei kommen unterschiedliche rechtliche Ansätze zum Tragen, um die UNO-Leitprinzipien umzusetzen. Die Schweiz hat im Moment noch die Chance, den Prozess mitzugestalten, indem sie eigene Regulierungen kreiert. So kann sie zum Beispiel den unternehmensfreundlichen Exkulpationsbeweis in die internationale Debatte einbringen, den es längst nicht in allen Staaten gibt. Bleibt sie hingegen untätig, wird sie früher oder später internationale Vorgaben übernehmen müssen.

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«Neu formulierte Haftungsbestimmungen sind nur die eine Seite der Medaille»

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Es gibt auch Kreise, die sagen, die Initiative würde künftig gerade in Entwicklungsländern wichtige Investitionen verhindern. Wie sehen Sie das?

Wenn die Gerichte mithelfen zu definieren, was angemessene Sorgfalt ist – bzw. was von einem Unternehmen in schwierigem Umfeld verlangt werden kann und was nicht –, entsteht mehr Rechtssicherheit für die Unternehmen. Längerfristig wird das solche Investitionen fördern. Bei der nachhaltigen Entwicklung geht es immer darum, schädliche Entwicklungen zu unterbinden und sinnvolle zu fördern. Neu formulierte Haftungsbestimmungen sind nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite sollten künftig auch spezifische Förderinstrumente zum Zug kommen.

Zum Beispiel?

In Diskussion steht, wie Standards harmonisiert und Regeln im Handels- und Steuerbereich, beim Export- und Investitionsschutz sowie der Entwicklungsfinanzierung angepasst werden könnten, um es Unternehmen zu erleichtern, nachhaltige Investitionen in einem schwierigen Umfeld zu tätigen.

Sie betonen die Chancen der Initiative. Was würde eine Nicht-Annahme für die Schweiz bedeuten?

Eine Folge könnte sein, dass die Haftungsregel von Artikel 55 des Obligationenrechts künftig einschränkender ausgelegt würde, was ein Rückschritt hinter das heute geltende Recht wäre. Die Frage, wie wir transnationale Unternehmenstätigkeiten gesellschaftlich besser einbetten können, bliebe aber bestehen. Denn ganz generell geht es darum, unser Rechtssystem an die Gegebenheiten und Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts anzupassen.

Kleiner Staat, grosse Unternehmen: die Schweiz in der Ordnung der Globalisierung

Die Schweiz ist klein, reich und profitiert stark von der Globalisierung. Sie gerät deshalb vonseiten anderer Länder und einer globalen Öffentlichkeit unter Druck, welche die Weltwirtschaft mit transnationalen Regeln «gerechter» und «nachhaltiger» gestalten wollen. Als Sitzland vieler multinationaler Unternehmen ist die Schweiz besonders exponiert – aber nicht einfach ausgeliefert. Gerade die Umsetzung von Regelungen für solche Unternehmen bietet Handlungsspielraum. Mehr dazu aus historischer und rechtlicher Sicht findet sich in einem Grundlagenpapier und einem Factsheet von Alex Gertschen und Elisabeth Bürgi Bonanomi, beide Uni Bern.