«Wir müssen den Schutz der Natur mit dem gesellschaftlichen Nutzen verbinden»

Am 6. Mai 2019 hat die zwischenstaatliche Plattform IPBES ihren Bericht über den aktuellen Zustand von Biodiversität und Ökosystemleistungen vorgelegt. Fazit der ersten weltweiten wissenschaftlichen Analyse seit 2005: Der Verlust an biologischer Vielfalt und Ökosystemen stellt inzwischen eine Bedrohung für das menschliche Wohlergehen dar. Die beteiligten Forscherinnen und Forscher schlagen den politischen Entscheidungsträgern eine Reihe dringlicher Massnahmen vor. Andreas Heinimann vom CDE hat als einziger Schweizer Wissenschaftler unter den Hauptautoren an einem Kapitel des Berichts mitgearbeitet.

Andreas Heinimann. Foto: Manu Friedrich


Interview: Gaby Allheilig

Andreas Heinimann, nach dem Weltklimabericht schlägt die Wissenschaft erneut Alarm – diesmal wegen des Artenverlusts und den sinkenden Ökosystemleistungen der Natur. Welches ist aus Ihrer Sicht die wichtigste Botschaft des Berichts?

Der Bericht zeigt die Dringlichkeit auf, Massnahmen gegen den Biodiversitätsverlust zu ergreifen. Denn viele negative Trends haben sich in den letzten Jahrzehnten stark beschleunigt: Wir nutzen die Natur immer einseitiger für materielle Dienstleitungen an die Menschheit – vor allem für die Nahrungs- und Energieproduktion –, während die regulierenden Funktionen der Natur stark abnehmen – etwa der Wald als äusserst wichtige Kohlenstoffsenke. Parallel dazu nehmen die für uns Menschen wichtigen immateriellen Leistungen ab – etwa die Natur als Erholungsgebiet und identitätsstiftender Raum.
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«Wichtig ist, nicht nur den Zustand der Natur zu beschreiben, sondern auch ihren Beitrag zur menschlichen Entwicklung aufzuzeigen»

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Es gab schon verschiedene regionale Berichte zur Biodiversität und Ökosystemleistungen, die zu praktisch denselben Resultaten kamen. Was ist neu am globalen Bericht von IPBES bzw. was ist sein Mehrwert?

Der Wert des Berichts liegt in der Zusammenarbeit von mehreren Hundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus zahlreichen Disziplinen und Ländern des globalen Nordens und Südens. Dieser Prozess ist breit anerkannt – auch von den 132 Ländern, die Mitglieder von IPBES sind. Das verleiht einerseits Legitimität und bietet andererseits eine grössere Chance, Wissen in aktives, politisches Handeln umzusetzen. Wichtig ist, dass wir nicht nur den Zustand der Natur beschreiben, sondern auch ihren Beitrag zur menschlichen Entwicklung und zur Lebensqualität aufzeigen. Und im Unterschied zu den bisherigen regionalen Berichten ermöglicht es die globale Sicht, die Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Weltregionen aufzuzeigen.
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«Der Druck auf die Regionen, die von indigenen Völkern bewirtschaftet werden, nimmt ständig zu»

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Die da sind?

Es zeigt sich vor allem, dass die Leistungen, welche die Natur für den Menschen erbringt, weltweit nicht gleich verteilt sind, und dass sich diese Ungleichheit immer mehr zuspitzt. So bewirtschaften zum Beispiel heute indigene Völker 28 Prozent der irdischen Landmasse. 40 Prozent der aktuellen Schutzgebiete liegen in diesen Regionen und die regulierenden und nicht materiellen Leistungen der Natur sinken dort deutlich weniger rasch als in anderen Gebieten. Ein Grund dafür liegt meist in der Landnutzung, die teils auf anderen als monetären Werten beruht. Doch der Druck auf diese Gebiete nimmt ständig zu.

Es gab in den letzten Jahren verschiedene Initiativen von Wissenschaftlern, die im Namen der Biodiversität fordern, 30 bis 50 Prozent der Erdoberfläche unter Schutz zu stellen.

Diese Initiativen sind wichtig, weil sie auch medienwirksam sind und das Bewusstsein für die Problematik fördern. Zudem braucht es tatsächlich einen Schutz von Landflächen durch regulative territoriale Massnahmen. Aber das reicht nicht. Denn wenn man einfach mehr Landflächen ausscheidet, geht man viele Ursachen nicht an, die dazu führen, dass die Artenvielfalt und die funktionierenden Ökosysteme abnehmen. Die geschützten Gebiete müssen untereinander vernetzt sein. Dann müssen wir das Augenmerk stärker auf die Wirksamkeit richten. Und schliesslich der entscheidende Punkt: Wir müssen den Schutz der Natur integrativ mit dem gesellschaftlichen Nutzen für verschiedene Akteure verbinden.
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«Nur die Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung bringt Lösungen, die sich positiv auf Natur und Mensch auswirken»

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Was heisst das konkret?

Nehmen wir Laos: Je nachdem, was man alles dazu zählt, stehen dort zwischen 16 und 29 Prozent des Landes unter Schutz. Aber wir haben Belege dafür, dass die Abholzungsrate zumindest in den Schutzgebieten, die unschwer erreichbar sind, häufig nicht wesentlich geringer ist als ausserhalb davon. Das heisst: Der Schutz ist nicht wirklich wirksam. Man hat es zum Teil verpasst, die lokale Bevölkerung genügend einzubinden, um ihre Interessen einfliessen zu lassen. Nur wenn man mit der lokalen Bevölkerung eng zusammenarbeitet, könnten Lösungen verwirklicht werden, die sich positiv auf Natur und Mensch auswirken.
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«Im Moment beeinflussen die Veränderungen der Landnutzung die Natur und Ökosysteme am meisten»

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Die Klimaforschung hat seit Jahrzehnten vor der Erderwärmung gewarnt – geschehen ist praktisch nichts. Erst jetzt kommt etwas in Gang. Wie lange haben wir Zeit, bis die Erkenntnis reift, dass man bei der Landnutzung nicht Jahrzehnte verstreichen lassen kann, bevor man handelt?

Wir sind sehr froh darüber, dass der Klimawandel jetzt endlich ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Veränderungen der Landnutzung – und das betrifft primär die Landwirtschaft – Natur und Ökosysteme im Moment am meisten beeinflussen. Hinzu kommt, dass Klima und Landnutzung eng miteinander verbunden sind: Die weltweiten Veränderungen in der Landnutzung treiben die Klimaerwärmung an und diese beeinflusst wiederum die Möglichkeiten, das Land zu nutzen. Deshalb ist es äusserst wichtig, dass wir die Frage der Landnutzung rasch und vermehrt auf die politische und gesellschaftliche Agenda bringen.
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«Die Wissenschaft muss mehr Wissen für Veränderungen Richtung Nachhaltigkeit generieren»

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Letztlich müsste also auch die Wissenschaft dabei aktiv werden. Allerdings fördert der IPBES-Bericht zutage, dass diese sich vor allem dem Beschrieb des immer kritischeren Zustands der Welt widmet. Die Untersuchungen hingegen, wie Natur, ihre «Leistungen» und der Mensch zusammenhängen und wie sich solche Probleme lösen lassen, fristen vergleichsweise ein Mauerblümchen-Dasein. Trägt die Ausrichtung, die sich die Wissenschaft gibt, nicht auch zu dem Malaise bei?

Das ist in der Tat ein Problem. Gemessen an der Dringlichkeit und Komplexität der Herausforderungen brauchen wir eine neue Ausrichtung, eine Art Wissenschaft 2.0, die sich nicht nach innen orientiert, sondern Wissen für Veränderungen in Richtung Nachhaltigkeit generiert. Also Transformationsforschung, die gesellschaftlich relevant ist. Es gibt solche Bestrebungen. So etwa an der Universität Bern, die von der Wissenschaft Lösungsvorschläge für gesellschaftlich relevante Fragen fordert. Aber das ganze wissenschaftliche System ist überhaupt noch nicht darauf ausgerichtet. Für die Laufbahn eines Forschenden zählen seine Publikationen und nicht, was er mit seiner Forschung effektiv dazu beiträgt, um gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen.
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«Die Schweiz muss sich auch dringend um ihren Fussabdruck in anderen Weltregionen kümmern»

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Was muss ein Land wie die Schweiz jetzt tun, um die Biodiversität zu fördern?

Innerhalb unserer Landesgrenzen stehen wir vor grossen Herausforderungen – etwa dem dramatischen Insektensterben und dessen weitreichenden Folgen. Mit anderen Anreizen für die Landwirtschaft kombiniert mit Verhaltensänderungen von Konsumentinnen und Konsumenten liesse sich hier schon einiges bewegen. Gleichzeitig braucht die Schweiz für ihren Konsum aber über 70 Prozent Land, das ausserhalb ihrer Grenzen liegt. Deshalb müssen wir uns auch dringend darum kümmern, wo und wie sich unser Fussabdruck ausserhalb der Schweiz auswirkt, und Massnahmen gegen negative Auswirkungen treffen. Territoriale Ansätze allein bieten in unserer globalisierten Welt keine echten Lösungen mehr.

IPBES und Berichte zu Biodiversität und Ökosystemleistungen

IPBES ist eine unabhängige zwischenstaatliche Plattform, die von den Mitgliedstaaten im Jahr 2012 eingerichtet wurde. Ziel von IPBES ist es, die wissenschaftlich-politische Schnittstelle für Biodiversität und Ökosystemleistungen zur Förderung der Erhaltung und nachhaltigen Nutzung der Biodiversität, des langfristigen Wohlergehens der Menschen und der nachhaltigen Entwicklung zu stärken. IPBES veröffentlicht regelmässig regionale, subregionale und thematische Berichte zu Zustand und Trends von biologischer Vielfalt und Ökosystemleistungen.

Medienmitteilung der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz und der Universität Bern, 6. April 2019

IPBES warnt vor drastisch beschleunigtem Artensterben

Das Artensterben beschleunigt sich fortwährend und ist bereits 10- bis 100-mal höher als im Durchschnitt der vergangenen 10 Millionen Jahre. Insgesamt sind 0,5 bis 1 Million von rund 8 Millionen Arten gefährdet, warnt der Weltbiodiversitätsrat IPBES am Montag im ersten globalen Bericht zum Zustand der Biodiversität und der Ökosystemleistungen. Der dramatische Zustand der Natur hat enorme Konsequenzen für die menschliche Existenz. So sind 14 von 18 Leistungen der Natur wie Bestäubung oder saubere Luft am Schwinden.