Auf der Suche nach nachhaltigem Fisch

162 Mio Tonnen: Das ist der weltweite Verbrauch von Fisch und Meeresfrüchten. Das macht über 20 Kilo pro Kopf und Jahr. Im Binnenland Schweiz sind es immerhin rund 9 Kilo. Die Konsumfreude erstaunt nicht, gilt Fisch doch als gesund und schmackhaft. Wären da nicht die Meldungen zu Überfischung, Antibiotika gesättigten Aquakulturen oder Fangmethoden, welche die marinen Ökosysteme zerstören. Viele Konsument*innen verlassen sich deshalb auf private Ökolabels, Ratgeber oder das «regionale» bzw. «Schweizer» Produkt. Ist es damit getan? Eine CDE-Studie kommt zum Schluss: nein – und zeigt auf, was es braucht.

Foto: shutterstock / max dallocco


Text: Gaby Allheilig

Der Konsum von Fisch und Meeresfrüchten steigt weltweit und auch in der Schweiz stetig an. 75'000 Tonnen sind es hierzulande derzeit pro Jahr – 60 Prozent mehr als noch vor 25 Jahren. Über 95 Prozent davon werden importiert.

Welche Auswirkungen unser Appetit hat, ist bekannt. Zahllose Studien, Dokumentarfilme und Berichte präsentieren immer verheerendere Zahlenreihen zur Überfischung der Meere, zerstörerische Fangmethoden, Umweltfolgen, und geben – deutlich seltener – Einblicke, was die industrielle Fischerei mit traditionellen Fischergemeinschaften im globalen Süden anrichtet.

Industrielles Fischerei-Schiff. Foto: shutterstock / Petruk Viktor
Ein Angestellter entsorgt den Hai als Beifang. Foto: shutterstock / Tara Lambourne


Verantwortung an Konsument*innen delegiert

Trotz alledem: In den geltenden Einfuhrbestimmungen von Meeresfischerei-Erzeugnissen gibt es in der Schweiz bloss eine Verordnung, die diese Negativspirale etwas bremsen könnte: Seit März 2017 müssen die Importprodukte aus «rechtmässiger Herkunft» stammen. Die Verantwortung dafür, was auf den Tellern landet, wird ansonsten an die Konsument*innen delegiert. Wie aber können diese einschätzen, was sie essen? Die wichtigste Rolle dabei spielt der Begriff «aus nachhaltiger Produktion».

Machen wir uns also auf die Suche nach nachhaltig produziertem Fisch. Unser erster Anker: die Versprechen des Detailhandels. So heisst es bei einem der grössten Händler der Schweiz: «Ohne Bedenken einkaufen: Bei uns können Sie guten Gewissens zu Fisch greifen.» Genauso wie bei der Konkurrenz verweist man dabei gerne auf Bio-zertifizierte Aquakulturen, das Prädikat «regionale Produktion» oder das bekannteste und grösste Label für Meeresfisch aus Wildfang: jenes des Marine Stewardship Council MSC.

Die Labels und der WWF

Damit landen wir im Hafen des WWF an. Ursprünglich Mitbegründer des MSC-Labels und dessen Pendant ASC für Fische und Meeresfrüchte aus Aquakulturen, hat sich die Umweltorganisation als eine der ersten im «nachhaltigen» Fischgeschäft positioniert. Inzwischen sind beide Labels unabhängig. Der WWF seinerseits tritt heute als Partner von Produzenten und Detailhandel auf, gleichzeitig fungiert er als Herausgeber des Ratgebers «Fische & Meeresfrüchte» für Konsument*innen. «Sein Einfluss punkto nachhaltigem Fisch ist in der Schweizer Fachwelt unbestritten», sagt denn Nachhaltigkeitsexperte und Branchenkenner Urs Baumgartner.

Allerdings merkt er an: Indem der WWF nur eine begrenzte Zahl an Fischlabels fördere – nebst Bio und ASC für Zuchtfische sowie MSC für Wildfang aus dem Meer – und seine Partner dazu ermutige, den Anteil an gelabelten Fischerzeugnissen jährlich zu erhöhen, trage die Organisation zur Verdrängung aller anderen Fischlabels und -produkten bei – «unabhängig davon, ob sie nachhaltig sind oder nicht.»

Die Konsumentin, die mit allen möglichen Labels ohnehin überfordert ist, mag das erleichtern. Aber wie steht’s mit der Nachhaltigkeit? Gleich vorneweg: Es ist komplex. 

Belabelte Nachhaltigkeit mit Schlagseite

Wie sich nachhaltiger von nicht-nachhaltigem Fisch abgrenzen lässt, untersuchten Urs Baumgartner von ekolibrium und Elisabeth Bürgi Bonanomi, CDE-Expertin für Handel und nachhaltige Entwicklung, in einer entsprechenden Studie (siehe am Ende des Textes). Bezogen auf MSC und ASC bilanziert Baumgartner: «Beide Labels beziehen sich auf die ökologische Nachhaltigkeit und das nur sehr limitiert. Zum Beispiel wird die Klimabilanz vollständig ignoriert, während Biodiversitätsschutz ‘stiefmütterlich’ behandelt wird. Desgleichen werden die ökonomischen und sozialen Auswirkungen von Wildfang und in der Aquakulturproduktion mehrheitlich ausgeblendet.»

Kurz: Die belabelte Interpretation von Nachhaltigkeit hat ziemlich Schlagseite. Das widerspiegelt sich im Detailhandel. Die Frage «Was ist nachhaltiger Fischfang?» beantwortet die Migros heute auf ihrer Website abschliessend so:

Quelle: https://corporate.migros.ch/


Coop geht die Sache zwar etwas diskursiver an, am Ende sind es aber diese drei Komponenten: MSC-zertifizierter Wildfang, Zuchttiere aus Bio-Aquakulturen und Fisch aus der Schweiz.

Aber auch die stark verkürzte Interpretation von Nachhaltigkeit scheint zu lecken. So stehen ASC und vor allem MSC immer wieder in der Kritik (siehe Box). Selbst Mitbegründer WWF kann beim MSC «nicht mehr jede Zertifizierung mittragen».

Gegründet von WWF und der Fisch verarbeitenden Unilever, ist die Organisation seit 1999 unabhängig und finanziert sich vor allem aus Lizenzgebühren für die Zertifizierung sowie aus Spenden. 17 Prozent des globalen Wildfangs bzw. der Fischereien ist MSC-zertifiziert. MSC strebt an, diesen Marktanteil bis 2030 auf 30 Prozent zu steigern – trotz stagnierendem oder rückläufigem Fischbestand. Das Wachstum hat seinen Preis. Umweltorganisationen wie Greenpeace oder Pro Wildlife kritisieren das Label vor allem wegen zu laschen Zertifizierungen und zu schwachen Standards. Zuletzt stand der MSC in der Kritik, weil die Organisation das Shark Finning – das Abtrennen von Haifischflossen bei lebendigem Leib –, das von etlichen MSC-Thun-Fischereien im Pazifik praktiziert wird, nicht konsequent unterbinde.


Small is beautiful – aber Gross wird zertifiziert

Das Hauptproblem ist jedoch nicht der Wildfang an sich. Traditionelle Fischerboote, also handwerkliche Kleinfischereien, die mit Angeln, Handleinen, Wurfnetzen oder Harpunen arbeiten, gefährden in der Regel weder die Bestände noch schädigen sie die Meeresökologie. Doch die grosse Mehrheit von ihnen kann eine Zertifizierung finanziell nicht stemmen. Oder, wie es Frédéric Le Manach et al. in ihrer Studie zu MSC-Zertifizierungen auf den Punkt bringen: «Small is beautiful – but large is certified».

Handwerkliche Fischerei mit Netzen. Foto: shutterstock / Kongkoon
Grossfang auf einem Trawler. Foto: shutterstock / Chaykovsky Igor


Bedroht sind die Meere und auch die Lebensgrundlagen der Bevölkerung an fischreichen Küsten Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens von der industriellen Fischerei, vor allem der Hochseefischerei. Supertrawler zum Beispiel – Schiffe von 80 Meter Länge und mehr – können täglich bis zu 250 Tonnen Fisch fangen und verarbeiten. Die meisten der schwimmenden Industrieanlagen sind im Besitz von Fischereien aus China, Taiwan, Südkorea, Japan, Europa und Nordamerika.

2022 ist unter anderem das Internationale Jahr der handwerklichen Fischerei und Aquakultur. Ausgerufen hat es die Welternährungsorganisation FAO. Wie aber unterscheidet sich die handwerkliche oder Kleinfischerei von der industriellen? Die FAO dazu: «Es gibt keine allgemeingültige Definition von ‘handwerklicher’ oder ‘kleiner’ Fischerei oder Aquakultur.» Je nach Region und Land könne diese unterschiedlich ausfallen. Trotzdem nennt die FAO ein paar Kriterien:

  • Kleine Produktionseinheiten mit relativ geringem In- und Output
  • Begrenzter Technologieeinsatz und geringe Kapitalinvestitionen
  • In der Regel Familienbetriebe, manchmal mit ein paar Angestellten
  • Sport- und Freizeitfischerei zählen üblicherweise nicht dazu.

Basierend auf wissenschaftlichen Untersuchungen lieferte die FAO 2014 eine summarische Übersicht:

FAO: "Value chain dynamics and the small-scale sector", 2014


Meist wird Kleinfischerei mit küstennahen Fangfahrten und kleinen Booten in Verbindung gebracht. Wobei die Bootslänge in vielen Ländern ein Schlüsselkriterium ist. Diese kann von 5 bis 15 Meter und in einigen Fällen bis zu 24 Meter reichen. Die EU klassifiziert Boote unter 12 Meter als klein.

Etliche Definitionsversuche berücksichtigen zudem die Bruttoregistertonnen, Motorenstärke und Energieverbrauch, den Bootstyp, Fanggeräte und/oder Fanggründe sowie Eigentumsverhältnisse. Nur wenige Definitionen enthalten Kriterien zu traditioneller, kommerzieller oder zur Subsistenz-Fischerei.

Obwohl eine allgemeingültige Definition von handwerklicher Fischerei fehlt, geht man davon aus, dass diese rund 40 Prozent der weltweiten Fangerträge generiert und samt Verarbeitung und Distribution 90 Prozent aller Fischerei-Arbeitsplätze bietet, wovon rund 50 Prozent Frauen (Verarbeitung und Handel).

Zusammen mit China und Taiwan mischen auch Kambodscha, Russland und Vietnam in einem anderen Teil des Geschäfts mit, genauer: im dunkelsten Teil des Geschäfts. Denn sie führen die Liste der illegalen, unregulierten und undokumentierten (IUU) Fischerei an, die – so Schätzungen – der einschlägigen organisierten Kriminalität jährlich zwischen zehn und 23 Milliarden US-Dollar einbringt. Tendenz steigend. Der finanzielle Verlust für die betroffenen Staaten, etwa durch Steuerausfälle oder Umweltschäden wie Überfischung und Biodiversitätsverlust, fällt indessen weit höher aus.

Keine lückenlosen Angaben

Hier bietet in der Schweiz die bereits erwähnte Verordnung zur «rechtmässigen Herkunft» wie auch entsprechendes Recht im angrenzenden Ausland einen gewissen Schutz: Im Handel muss nicht nur die Provenienz des Fisches oder der Shrimps – egal ob frisch, tiefgekühlt oder in Konserve – angegeben werden, sondern auch die Kategorie der Fanggeräte, Handelsbezeichnung und wissenschaftlicher Name des Fisches. Wichtige Angaben, die auf Speisekarten der Gastronomie meist fehlen.

Mit ihnen lässt sich, unabhängig vom Label, beim Einkauf wenigstens herausfinden, wie – so die Diktion des WWF – verantwortlich der Konsum und ökologisch ein Produkt ist, wenngleich auch das nur bedingt: «Eine zentrale Angabe – nämlich die der exakten Fangmethode – ist nicht vorgeschrieben», erklärt Urs Baumgartner. Für unsere Suche eine wesentliche Lücke, entscheidet sie doch unter anderem darüber, ob ein Produkt ökologisch oder nicht ökologisch produziert ist.

Langleinen und Haken. Foto: shutterstock / Darkydoors
Japanisches Langleinen-Fischereischiff, das in der Nähe der Pazifikküste Panamas ankert. Foto: shutterstock / Bruce Raynor

Wer genauer herausfinden will, was sich hinter den Fachbegriffen zu Fischereimethoden beim Wildfang und zu Zuchtsystemen von Aquakulturen verbirgt, erhält wiederum beim WWF einige Informationen. Eine etwas differenziertere Darstellung zum Thunfischfang und zum Siegel «Delfin-freundlich gefangen» bietet Greenpeace hier.

Punkto Fangkategorien und Fanggeräten gibt die Darstellung von Thünen – Institut für Ostseefischerei mehr Aufschluss. Sie zeigt, dass jede Kategorie mehrere Fanggeräte beinhaltet. Aber auch, dass das Fehlen von genauen Angaben zum Fanggerät einen bewussten Kauf verunmöglichen kann.

Lesebeispiel: Der WWF gibt unter «Handleinen» an, dass sich diese nur selektiv auf die Zielart und gar nicht auf den Meeresboden auswirken – also bezüglich Fangmethode ökologisch nicht bedenklich sind. Handleinen gehören zur Kategorie «Haken und Langleinen», was in der Regel auch die Bezeichnung im Detailhandel und in Fischratgebern ist. Diese Kategorie beinhaltet jedoch auch Langleinen, die bis zu 100 km lang und mit mehreren tausend Haken bestückt sein können – punkto Beifang ein No-Go.


Auf Tauchgang im weltweiten Netz

Trotz dieser Mängel greifen wir zu einem Fischratgeber, der uns zusammen mit besagten Angaben auf den Gebinden Konsumempfehlungen liefern soll. Wir wählen den bekanntesten, jenen des WWF, und machen eine kleine Probe aufs Exempel.

Im Regal eines Schweizer Detailhändlers kaufen wir ein beliebtes Produkt: Thunfisch in Öl, drei Dosen und ein Glas. Alle weisen die genaue Fischart, die Kategorie der Fanggeräte sowie grundsätzlich die Fischfangregion aus, die der Einteilung der Welternährungsorganisation FAO folgen. Nun suchen wir im Ratgeber die entsprechenden Angaben. Um das Endresultat für verantwortungsvoll und ökologisch möglichst nachvollziehbar zu erhalten (siehe Box «Verantwortungsvoll einkaufen» am Schluss), gehen wir für die nächsten paar Stunden auf einen Tauchgang im weltweiten Netz. Dabei erhalten wir mal Oberwasser, mal fischen wir im Trüben. Und sind letztlich nur in einem sicher: Für nachhaltige Produkte, die ihr Echolot nicht nur auf Fischbestand und Meeresökologie gerichtet haben, reicht selbst das noch lange nicht aus.

Aquakulturen als Ausweg?

Also wenden wir uns der nächsten Möglichkeit zu, die uns der Handel bietet: den Produkten aus Aquakulturen. In ihnen sehen die meisten einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen steigendem Konsum und bedrohten Beständen. Das schlägt sich auch in der Marktentwicklung nieder: Seit Jahrzehnten ist die Aquakultur weltweit der am schnellsten wachsende Zweig der Nahrungsmittelproduktion und hat laut FAO 2020 erstmals die Meeresfischerei überholt.

Massentierhaltung in norwegischen Netzgehegen: Die Mortalität in der dortigen Lachszucht liegt bei 20 Prozent, weitere Probleme beim Tierschutz und Krankheiten kommen ebenso hinzu wie massive Umweltschäden – verursacht durch Fischkot, Futterreste, Einsätze von Chemikalien, etc. Foto: shutterstock / GaudiLab
Shrimp Farm an der vietnamesischen Küste: Das boomende Geschäft der Aquakulturen fördert die Abholzung von Mangrovenwäldern. Foto: shutterstock / Nguyen Quang Ngoc Tonkin


Auf unserer Suche umschiffen wir von vornherein bekannte Problemzonen der Aquakultur wie industrielle Shrimp- oder Lachsfarmen in Küstengewässern und konzentrieren uns auf die lokale, also Schweizer Produktion. Hier wird Nachhaltigkeit grossgeschrieben – nicht nur im Detailhandel, sondern auch auf den Webseiten der Hersteller. Je nach Produktionssystem und Fisch- bzw. Seafood-Art kommen diese gemäss den Angaben fast immer ohne Antibiotika aus, belasten weder Umwelt noch Ökosysteme, sind tierschonend, etc. Und es wird mit kurzen Transportwegen geworben, was bei uns Kundinnen und Konsumenten den wohl nicht unerwünschten Trigger auslöst: «nachhaltiger als importierte Produkte».

«Dabei wird ausgeblendet», so Urs Baumgartner, «dass es sich immer öfter um Indoor-Kreislaufanlagen handelt, die viel graue Energie enthalten und auch für den Betrieb sehr viel Energie brauchen – vor allem wenn es sich um Warmwasser-Arten wie Shrimps oder Pangasius handelt. Überdies sind sie enorm kapitalintensiv.»

Kreislaufanlage in Belgien. Foto: shutterstock / Werner Lerooy


Gefangen im Kreislauf

Die hohen Investitionskosten ihrerseits bedingen «hohe Fischdichten zur Erzielung einer Rentabilität», und die Artenwahl sei «auf Spezies mit hohem Marktwert, meist Raubfische» eingeschränkt, räumt der «Bericht zur möglichen Entwicklung der Fischhaltung auf landwirtschaftlichen Betrieben» des Bundesamts für Landwirtschaft von 2017 zu geschlossenen Anlagen ein. Womit sich ein weiterer Kreislauf schliesst: Für die beliebten karnivoren Arten muss Fischmehl und -öl zugefüttert werden, das meist wiederum aus Meeresfang stammt – unabhängig davon, ob sie in professionell betriebenen Aquakulturen oder in landwirtschaftlichen Nebenerwerbs-Fischfarmen gemästet werden.

Wie sich der Anteil von Fischmehl im Futter senken lässt, etwa mit Algen, Insekten, Lupinen, etc. ist daher weltweit Gegenstand der Forschung. Fakt aber ist: Derzeit enden, je nach Quelle, ein Viertel bis ein Sechstel der gefangenen Meeresfische auf Fischfarmen zur Fütterung von Lachsen, Forellen, Zander und Co.

Swissness – kein Freibrief für Nachhaltigkeit

Auch ein Blick aufs Fischwohl wirft nicht nur punkto Besatzdichte Fragen auf. «Entgegen generellen Aussagen sind Krankheiten bei Zuchtfischen weit verbreitet, obwohl sie in den geschlossenen Kreislaufanlagen isoliert sind – mit entsprechend hohen Mortalitäten», sagt Urs Baumgartner. Sein Fazit: «Weil Tierwohl, Energie- und Kapitalbedarf in der Beurteilung von ‘nachhaltigem’ Fisch oder Meeresfrüchten ausgeblendet werden, lassen sich die Produkte ungeniert als ‘nachhaltig’ verkaufen.» Swissness ist also kein Freibrief für Nachhaltigkeit.

Doch was ist überhaupt ein Schweizer Fisch? Um mit dem Branchen-Siegel «Aquakultur Schweiz» über den Ladentisch gehen zu dürfen, muss ein Fisch aus Aquakultur die Hälfte seines Lebens in der Schweiz verbracht oder hier seinen Wert um 50 Prozent gesteigert haben. Soll er unter der Flagge des Marketing-Labels «Swiss Garantie» segeln, muss er 90 Prozent seines Endgewichts in der Schweiz erlangt haben. Tiere mit der Bezeichnung «Schweizer Fisch» hingegen können hierzulande nur einen Kurzaufenthalt gehabt haben.

Für Wildfang gibt es kein Bio-Label, für Aquakulturen schon. Ausnahme hier: Geschlossene Kreislaufanlagen werden nicht biozertifiziert, weil die Indoor-Anlagen fern der natürlichen Lebensgrundlagen von Fischen sind, unter anderem auch wegen der Haltungsdichte.

Während die EU und immer mehr Staaten wie Kanada oder Korea wenigstens die Bio-Aquakulturen regeln, überlässt die Schweiz auch hier das Feld privaten Labels. Das in der Schweiz bekannteste, Bio-Suisse, basiert wie das deutsche «Naturland» auf den Prinzipien der extensiven Tierzucht, berücksichtigt Umweltschutz, Tierwohl und beinhaltet teilweise soziale Kriterien. Damit schafft die Bio-Zertifizierung zumindest in einigen wichtigen Punkten Abhilfe bei bekannten Problemen der Aquakultur. Eine sichere Gewähr für tatsächlich ökologisches Fishfarming bieten diese Labels aber nicht: Hinsichtlich der Zufütterung von Fischmehl oder -öl aus Meeresfang schreiben Bio-Suisse bzw. Naturland auf ihren Webseiten zwar, dass Futter aus zertifizierter «nachhaltiger» Fischerei zum Einsatz komme. Welche Zertifizierung damit gemeint ist, bleibt jedoch offen. Das deutsche Bioland, mehr Marke als Siegel, bietet konsequenterweise ausschliesslich einen Friedfisch aus Aquakultur an: Karpfen.


Bleibt der in Konsumtipps oft empfohlene Wildfang aus heimischen Gewässern. Bloss: Das Angebot ist verschwindend klein. Laut einem vom Bundesrat Anfang 2019 verabschiedeten Bericht macht er nur noch rund zwei Prozent des Konsums aller Fischereierzeugnisse aus. Süsswasserfische aus Wildfang stammen demnach zu rund einem Drittel aus Schweizer Gewässern, der Rest wird importiert. An der steigenden Nachfrage alleine liegt das nicht. Seit 2000 sind die Fangerträge aus unterschiedlichen Gründen stark rückläufig. Und eine Trendwende? Nicht in Sicht.

Am Ende der Leine angelangt

Damit sind wir als Konsument*innen am Ende unserer Möglichkeiten angelangt, nachhaltigen Fisch von nicht-nachhaltigen Produkten zu unterscheiden. Angesichts der Tatsache, dass die Schweiz weniger als 5 Prozent der verzehrten Fische und Meeresfrüchte selbst produziert (Wildfang und Aquakulturen zusammen) und auch die Bezeichnung «aus regionaler Produktion» nicht per se  Synonym von «ökologisch bedenkenlos» ist, stellt sich ernsthaft die Frage: Was ist zu tun?

In ihrer Untersuchung, während der sie unter anderem zahlreiche Expert*innen der Schweizer Fischbranche interviewten, sind Urs Baumgartner und Elisabeth Bürgi Bonanomi zu einem eindeutigen Schluss gelangt: «Um auf dem Schweizer Fischmarkt Klarheit über die Nachhaltigkeit zu schaffen, muss der Staat eine aktive Rolle spielen, zumal der Markt hauptsächlich von internationalen Anbietern versorgt wird.»

Fisches Nachhaltigkeit auf Bundesebene definieren

Doch wo beginnen? Den wichtigsten Hebel dafür sehen die Autor*innen in der Handelspolitik bzw. deren Regulierungen. Mit Anreizen, beispielsweise bestimmten Handelserleichterungen für nachhaltige Produkte, liesse sich viel bewegen. Voraussetzung: Die Schweiz müsste dafür ähnlich dem Beispiel der Bio-Verordnung – dem «Bundesbio» (nicht zu verwechseln mit privaten Labels wie Bio-Suisse) – definieren, welche ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Kriterien nachhaltige Fischerei-Erzeugnisse erfüllen müssen, um so bezeichnet werden zu dürfen. Egal ob im In- oder Ausland produziert. Und sie müsste dafür sorgen, dass die Standards auch kontrolliert werden.

Zentral sei bei der Festlegung solcher Kriterien, dass Nachhaltigkeit umfassend formuliert sei, unterstreicht Urs Baumgartner. «Weiter ist es wichtig, dass Standards und Verordnungen inklusiv sind, also die Bedürfnisse und Rechte aller Akteure berücksichtigen. Sonst läuft man Gefahr, dieselben Fehler zu begehen wie zum Beispiel der MSC.»

Im Unterschied zu Privaten muss der Staat für eine präferenzielle Behandlung von nachhaltigen Produkten aber die WTO-Prinzipien der Nicht-Diskriminierung und Verhältnismässigkeit einhalten. Für die Autor*innen ein Pluspunkt: «Auf diese Art würden die Wettbewerbsbedingungen angeglichen und eine mögliche Diskriminierung von Herstellern vermieden, die wirtschaftlich und betreffend Marktmacht schwächer sind – wie zum Beispiel Kleinfischereien aus Entwicklungsländern.»

Am Hafen von Elmina, Ghana. Laut einem Bericht der Environnmental Justice Foundation steht die ghanaische Fischerei wegen der ausländischen Industriefischerei kurz vor dem Zusammenbruch. Foto: shutterstock / Anton Ivanov
Fischer in der Nähe von Nouakchott, Mauretanien: Der «Fischraub» durch chinesische und andere Akteure wirkt sich gravierend auf die Fischbestände und die traditionelle, einheimische Fischerei aus. Foto: shutterstock / Ekaterina Khudina


Auch eine Frage der Gerechtigkeit

So sagt Urs Baumgartner: «Es ist schlicht auch eine Frage der Gerechtigkeit, welche Art von Fisch auf unseren Speiseplan gelangt». Denn wenn nicht rasch ein weltweites Umdenken stattfindet, drohen nicht nur die Meere vollends leergefischt zu werden, sondern in armen Fischereiregionen auch Hunger und Perspektivelosigkeit zuzunehmen und eine jahrtausendealte Kultur unterzugehen.

«Die Schweiz könnte hier ein klares Zeichen setzen und – zusätzlich zu einer präferenziellen Behandlung von nachhaltigen Importprodukten – via Handelsabkommen bewusst die Kapazitäten der handwerklichen Fischerei (wieder) aufbauen helfen.»  

Land, so die Überzeugung des Experten, das wäre in Sicht.

Wir haben vier Thunfisch-Konserven im Schweizer Detailhandel erworben und wollen mit dem Fischratgeber des WWF überprüfen, ob wir verantwortungsvoll und ökologisch eingekauft haben.

Drei davon tragen das MSC-Siegel, je zwei sind Weisser Thunfisch bzw. Bonito, alle gefangen mit Angel und Handleinen.

Unsere ersten beiden Dosen, einmal Bonito aus dem Westpazifik ohne MSC-Label, einmal Weisser Thunfisch aus dem Nordöstlichen Atlantik mit MSC-Label, scheinen – mindestens punkto Ökologie – ein guter Fang zu sein. Der Fischratgeber gibt grünes Licht.

Dann beginnt das Fischen im Trüben. Für die MSC-belabelte Dose von den Malediven wurde der Bonito mit Handleinen aus dem westlichen Indischen Ozean (FAO 51) gezogen. Der WWF-Fischführer in allen drei deutschsprachigen Ländern bepunktet das mit Gelb, «zweite Wahl». WWF-Deutschland meint, die Bonito-Bestände im Indischen Ozean seien in einem «guten Zustand», die Österreicher fügen dem kritisch hinzu: «Jedoch werden derzeit die empfohlenen Fangmengen überschritten, was langfristig zu einer Überfischung führen kann.» Auf Schweizer Seite erfahren wir nur gerade etwas über die Biologie der Spezies. Was nun gilt, wissen wir nicht. Auch nicht, aus welchen Gründen das Produkt nur einen gelben Punkt bekommt.

Die letzte Konserve ist MSC-zertifizierter Weisser Thunfisch im Glas, gefangen mit der Angel und das teuerste der vier Produkte. Gefischt wurde er im «Nordostatlantik und Pazifischen Ozean». Thunfisch wandert – aber gleich so weit und so schnell? Die atlantische Angabe lässt sich noch als FAO-Gebiet 27 identifizieren. Der Pazifische Ozean hingegen umfasst die Fangregionen FAO 61, 67, 71, 77, 81, 87. WWF-Schweiz und Deutschland geben für besagte Spezies bei solcher Fangmethode in all diesen Gebieten grünes Licht. Nicht aber Österreich. In den Weiten des Pazifischen Ozeans gehen hier bei FAO 61 und 67 die grünen Punkte verloren. Bei einem anderen Ratgeber «zum nachhaltigen Fischeinkauf», jenem der Verbraucherzentrale Hamburg, fehlen die 71 und 77 für diese Spezies gänzlich. Es bleibt also nebulös, was wir gekauft haben.

Nach mehreren Stunden Surfen stossen wir zufällig noch auf ein Rezept: Thunfischsalat ohne Fisch. Wohl etwas vom Brauchbarsten in Sachen nachhaltigem Fisch.

Wir haben uns lange überlegt, ob wir Konsumtipps geben wollen, da unter den heutigen Bedingungen im Grunde genommen jede Fischerei bzw. Aquakultur einzeln betrachtet werden müsste. Trotzdem:

  • Essen Sie den ganzen Fisch, nicht nur die Filets.
  • Fragen Sie immer und egal wo (auch im Restaurant), woher der Fisch kommt und wie er gefangen wurde. Wenn Sie keine klaren Informationen erhalten, verzichten Sie darauf.
  • Bevorzugen Sie Muscheln aus Zucht. Diese sind im Unterschied zu MSC-zertifizierten Wildmuscheln in der Regel unbedenklich.
  • Entscheiden Sie sich für Friedfische – also Fische, die sich mehrheitlich pflanzlich ernähren – aus der Zucht. Dazu zählen Karpfen oder Pangasius. Während sich Karpfen in Europa auch im Freien züchten lassen, empfiehlt sich wegen des Energieverbrauchs Pangasius aus tropischen Ländern wie Vietnam. Aber achten Sie auf Bio-, ASC- oder GlobalGAP-zertifizierte Produkte.
  • Falls Sie auf Shrimps, Garnelen o.ä. nicht verzichten wollen: Greifen Sie zu Produkten, die ausgewiesenermassen aus extensiver Bio-Zucht stammen. Die positiven Ausnahmen sind allerdings (noch) Einzelfälle, etwa Bio Black Tiger aus Sulawesi, Indonesien (z.B. in der Migros erhältlich) oder aus integrierten Shrimp-Mangroven-Systemen in Vietnam (bei Coop). Ja, trotz des Transports. Denn tropische Shrimps, die in Europa gezüchtet werden, haben einen äusserst hohen Energiebedarf.
  • Kaufen Sie hiesigen Wildfang nach Möglichkeit direkt bei einem Fischer, den Sie kennen. Fragen Sie auch ihn, woher der Fisch stammt.

 

 

Die CDE-Studie, weitere Berichte und Infoportale (Auswahl)

Urs Baumgartner und Elisabeth Bürgi Bonanomi: “Drawing the line between sustainable and unsustainable fish: product differentiation that supports sustainable development through trade measures”, Springer Open, 2021

FAO: “In Brief to The State of World Fisheries and Aquaculture 2022. Towards Blue Transformation

Rocío Puntas Bernet, Christoph Dorner, Gao Shan: «Auf Raubzug in Senegal», Reportage über die weltweite Fischerei-Industrie, Reportagen 2022

MSC-Zertifizierung

Frédéric Le Manach et al: “Small is beautiful, but large is certified: A comparison between fisheries the Marine Stewardship Council (MSC) features in its promotional materials and MSC-certified fisheries”, PLOS ONE, 2020

Aquakultur

Informationsplattform Aquakulturinfo, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)

Koordinationsstelle Aquakultur Schweiz

Bundesamt für Landwirtschaft: «Fische und Landwirtschaft. Bericht zur möglichen Entwicklung der Fischhaltung auf landwirtschaftlichen Betrieben», 2017