«Der Bergbevölkerung steht eine nachhaltige Entwicklung zu»

Über 900 Millionen Menschen leben weltweit in Berggebieten. Zwischen 60 und 80 Prozent des global verfügbaren Süsswassers stammt aus Bergregionen. Auch wirtschaftlich sind diese interessant, ziehen sie doch 15 bis 20 Prozent des globalen Tourismus an. Gründe genug, um die nachhaltige Entwicklung dieser Gebiete vermehrt ins öffentliche Interesse zu rücken, findet die Mountain Partnership. Zum diesjährigen Welttag der Berge hat sie das Motto herausgegeben: #MountainsMatter. CDE-Wissenschaftlerin Susanne Wymann von Dach über die Hintergründe – und die Chancen für diese Regionen.

Susanne Wymann von Dach
Susanne Wymann von Dach © Manu Friedrich

 

Interview: Gaby Allheilig

Der internationale Tag der Berge steht 2018 unter dem Motto «#MountainsMatter», Berge sind wichtig. Das klingt so, als ob sie von Politik und Öffentlichkeit vergessen würden. Dabei sind sie ausdrücklich in der Agenda 2030 der UNO erwähnt. Warum also dieser Aufruf, bei der nachhaltigen Entwicklung stärker an die Berge zu denken?

Die Bergregionen sind tatsächlich in drei Unterzielen der Agenda 2030 explizit erwähnt. Aber diese Ziele beziehen sich vor allem auf die Bedeutung, die Bergökosysteme für eine nachhaltige Entwicklung haben: ihren Reichtum an Biodiversität, ihre Rolle als Wasserlieferanten und als Erbringer von anderen Leistungen, die nicht nur für die Bergbevölkerung sondern auch fürs Tiefland wichtig sind. Was in der Agenda 2030 jedoch nicht zum Ausdruck kommt, ist Folgendes: Rund 13 Prozent der Weltbevölkerung lebt in Bergregionen und die Anzahl an Bergbewohnerinnen und Bergbewohnern wächst weiter…

… um wieviel?

Allein zwischen den Jahren 2000 und 2015 hat die Bergbevölkerung global gesehen um rund 16 Prozent zugenommen, das Wachstum ist jedoch von Land zu Land unterschiedlich. Das bedeutet, dass sich immer mehr Menschen die teils beschränkten natürlichen Ressourcen teilen müssen. Deshalb erstaunt es auch nicht, dass in Bergregionen prozentual mehr Menschen unter Armut leiden als anderswo. Kommt hinzu, dass die Bergbevölkerung weniger Möglichkeiten hat, sich wirtschaftlich und persönlich zu entfalten, weil diese Gebiete oft wenig erschlossen sind. Mit dem Motto #MountainsMatter geht es also vor allem auch darum, auf die Lebenssituation der Bergbevölkerung aufmerksam zu machen. Ihre Möglichkeiten für eine nachhaltige Entwicklung müssen erweitert und gefördert werden.

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«Es ist wichtig, dass die betroffenen Gebiete eine starke Stimme haben»

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Die Mountain Partnership hat eine ganze Liste zusammengestellt, wo der Schuh für eine nachhaltige Entwicklung der Berggebiete drückt: vom Verlust der Artenvielfalt über Armut, Migration, etc. bis zu den Folgen des Klimawandels. Andere Regionen sind mit vielen dieser Herausforderungen jedoch genauso konfrontiert: die Tropen, Trockengebiete, Inselstaaten…

Das stimmt zwar, aber es geht nicht darum, die verschiedenen Gebiete gegeneinander auszuspielen. Ihnen allen ist gemein, dass sie von Entwicklungen betroffen sind, die sie oft nur beschränkt aus eigener Kraft verändern können. Es ist deshalb wichtig, dass sie eine starke Stimme haben. Die kleinen Inselstaaten haben sich schon 1990 zu einer Allianz zusammengeschlossen, dank der sie heute zum Beispiel in den globalen Klimaverhandlungen mehr Gewicht haben, als wenn sie einzeln verhandeln müssten. Und die Trockenregionen können sich auf die UNO-Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung stützen. Sie deckt zwar nur einen Teil der Herausforderungen jener Regionen ab, ist aber wichtig.

Trotzdem stellt sich die Frage: Was ist so speziell an Bergregionen bzw. was macht sie so anders als andere Gebiete?

Da ist ganz offensichtlich die Topographie. Sie erschwert die Erreichbarkeit dieser Regionen bzw. verteuert deren Erschliessung. In einigen Ländern trägt das dazu bei, dass die Bergbevölkerung bei politischen Entscheiden kaum oder gar nicht vertreten ist und deshalb nicht mitreden und -bestimmen kann.

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«Veränderungen in den Bergen können tiefer gelegene Regionen direkt beeinflussen»

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Dann gibt es Veränderungen in den Bergen, die tiefer gelegene Regionen direkt beeinflussen können – etwa bei der Wasserversorgung oder den Naturgefahren. Szenarien der Klimaforscher zeigen, dass bis ums Jahr 2100 die Temperatur in der Himalayaregion bis zu 5,5°C zunehmen kann, wenn der Treibhausgasaustoss wie bisher weiterwächst. Das ist dann enorm viel. So ist damit zu rechnen, dass die rasch zunehmende Gletscherschmelze besonders in ariden oder semiariden Gebieten starke Folgen für die Regionen an den Unterläufen haben werden. Das ist zum Beispiel im Indusbecken der Fall, dessen Flüsse zwischen 50 und 90 Prozent von Schneeschmelze und Gletscherwasser gespeist werden.

Bergregionen sind überproportional von der Klimaerwärmung betroffen. Ergeben sich daraus lokal gesehen nicht auch Chancen?

In gewissen Gebieten kann Wärme unter Umständen tatsächlich eine bessere landwirtschaftliche Produktion ermöglichen.

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«Die Kleinkammerung kann zu einer beeindruckenden Vielfalt beitragen»

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Es gibt aber noch einen weiteren Faktor, der für Berggebiete ebenfalls eine Chance sein kann: die Kleinkammerung. Sie kann zu einer beeindruckenden Vielfalt beitragen – sei dies ökologisch, sozial, oder kulturell. Das hat zu lokal angepassten Entwicklungen geführt. Ökonomisch reicht allerdings eine Einkommensquelle oft nicht aus und Teile der Bergbevölkerung müssen ihren Lebensunterhalt sichern, indem sie verschiedene wirtschaftliche Aktivitäten kombinieren.

Wofür braucht es jetzt vordringlich Lösungen?

Die betroffene Bevölkerung muss in Zusammenarbeit mit den jeweiligen lokalen und nationalen Behörden klären, wo der Schuh drückt und was sie braucht. Dies lässt sich nicht für alle Bergregionen weltweit gleich formulieren, sondern ist je nach Region sehr spezifisch. Eine Studie, die wir 2018 zusammen mit unseren Partnern in fünf Ländern – Ecuador, Uganda, Kirgistan, Nepal und der Schweiz – durchführten, hat gezeigt, dass die Ziele der Agenda 2030 unterschiedlich gewichtet werden. In Nepal und Uganda sticht die Armutsbekämpfung hervor, in Kirgistan steht die Wasserbewirtschaftung an oberster Stelle. Derweil wird in der Schweiz die Verbesserung und Sicherung von Einkommensmöglichkeiten betont, unter anderem durch die Förderung von nachhaltigem Tourismus (siehe Box).

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«Es gibt Gemeinsamkeiten, aber die Prioritäten muss man lokal setzen»

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Die Bergregionen haben also kaum gemeinsame Prioritäten?

Doch. Bei fast 30 von den 169 Unterzielen der Agenda 2030 waren sich die Mehrheit der lokalen Spezialistinnen und Spezialisten sowie Behördenvertreter einig, dass diese für eine nachhaltige Entwicklung in den meisten Berggebieten aller fünf Länder zentral sind. Dabei geht es zum Beispiel um die nachhaltige Bewirtschaftung des Bergwalds und der Wasservorräte sowie den Erhalt der Biodiversität. Als entscheidend wird auch eingestuft, dass die Bergbevölkerung befähigt wird, sich dem Klimawandel anzupassen. Kurz: Es gibt gewisse Gemeinsamkeiten, aber die Prioritäten müssen lokal und unter Einbezug der Bevölkerung gesetzt werden.

In dieser Studie kommen Sie auch zum Schluss, dass es mehr Koordination unter den Bergregionen braucht, damit diese in internationalen Abkommen und Netzwerken an Gewicht gewinnen. Woran denken Sie konkret?

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«Man muss in die lokale Wertschöpfung investieren»

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Internationale Abkommen sind immer auch ein Mittel, um etwas auszulösen und zu steuern. Wenn es den Bergregionen gelingt, gemeinsam sichtbarer zu werden und auf ihre Situation aufmerksam zu machen, kann das ihre Verhandlungspositionen nur stärken – sowohl international wie regional. Für die Entwicklung jeder Region ist es aber unabdingbar, genau hinzuschauen, wo welche Situation vorherrscht. Und da haben wir bei unserer Studie festgestellt, dass es häufig an lokalen, räumlichen Daten fehlt – entweder weil sie gar nicht erhoben bzw. ausgewertet wurden oder weil sie nicht zugänglich sind. Will man die Chance nutzen und partizipativ angepasste Entwicklungsstrategien entwerfen, braucht es aber solide Daten – sei es bezüglich sozialer und wirtschaftlicher Gegebenheiten als auch hinsichtlich der Landnutzung. Hier besteht ein grosser Nachholbedarf.

Wo sehen Sie weitere Chancen für eine nachhaltige Entwicklung von Berggebieten?

Einen Ansatz, den ich für vielversprechend halte, ist die Idee, regional kleinere Zentren zu fördern, die auch ausserhalb der Landwirtschaft Einkommensmöglichkeiten und Arbeitsplätze bieten. Dafür müsste man auch lokale Märkte aufbauen und dort vermehrt in die Wertschöpfung, Bildung und innovative Ideen investieren. Wenn zum Beispiel lokale KMU die Rohstoffe vor Ort zumindest teilweise verarbeiten könnten, wäre schon viel gewonnen.

Leaving no one in mountains behind

Wymann von Dach S, Bracher C, Peralvo M, Perez K, Adler C. 2018

Leaving no one in mountains behind – Localizing the SDGs for resilience of mountain people and ecosystems. Issue Brief on Sustainable Mountain Development. Bern, Switzerland: Centre for Development and Environment and Mountain Research Initiative, with Bern Open Publishing.

Nachhaltige Entwicklung in Bergregionen und die Agenda 2030

Die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 (SDGs) bieten einen geeigneten Rahmen, um nachhaltige Entwicklung in Bergregionen zu beurteilen und entsprechende Strategien zu erarbeiten. In einem Working Paper besprechen Wissenschaftler_innen von CDE und der Mountain Research Initiative die lückenhafte Datenlage für Bergregionen und schlagen mögliche Lösungen vor (Publikation in Englisch).