«Diversity ist der Schlüssel, um die Forschung zu dekolonialisieren»

Ob Klima- und Biodiversitätskrise, ob Nutzungskonflikte um die Ressourcen: Die heutigen Krisen sind global. Der Forschungszusammenarbeit Nord-Süd kommt hier eine wichtige Rolle zu, zumal sie Wissen für Strategien und Politiken bereitstellt, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Doch auch sie ist nach wie vor vom wirtschaftlichen und politischen Machtgefälle zwischen globalem Norden und Süden sowie kolonialen Mustern bestimmt. Höchste Zeit, die Forschung zu dekolonialisieren. Worauf es dabei ankommt, hat CDE-Wissenschaftlerin Ravaka Andriamihaja für die Kommission für Forschungspartnerschaften mit Entwicklungsländern (KFPE) untersucht.

«Solange Projektleitungen und -koordinationen einseitig im globalen Norden angesiedelt sind, wird sich kaum etwas an dem Machtgefälle ändern»: Ravaka Andriamihaja. Foto: CDE


Interview: Gaby Allheilig

Forschungsteams in Nord-Süd-Partnerschaften arbeiten über Länder und Kontinente hinweg zusammen, um die globalen Krisen anzugehen. Das Geld dafür stammt meist aus dem Norden. Gilt auch hier: Wer zahlt befiehlt?

Die kurze Antwort lautet: Ja. Die Geldgeber – seien es Staaten oder Institutionen – entscheiden in der Regel, wie das Geld verwendet wird und was mit den Forschungsergebnissen geschieht. Aber es gibt Anzeichen für einen allmählichen Wandel. In den Interviews, die ich für die Studie führte, zeigte sich zum Beispiel: Einige Geber wollen bei neuen Forschungsprojekten inzwischen, dass die Akteure aus dem globalen Süden bereits von Anfang an involviert sind. In der Praxis war es jedoch in den vergangenen Jahren auf Projektebene meist so, dass die Partner aus dem globalen Norden alle wesentlichen Punkte eines Forschungsprojekts definierten: das Thema, die Ziele und wer beteiligt sein sollte. Dazu kommt, dass die Forschungskonzepte und -methoden ebenfalls aus dem Norden stammen.

Immerhin stellt die KFPE für die Forschungspartnerschaften zwischen Norden und Süden seit Langem Richtlinien bereit, um eine gerechtere Forschungszusammenarbeit auf möglichst gleicher Augenhöhe zu gewährleisten. Sie haben diesen Leitfaden unter die Lupe genommen. Zu welchem Resultat sind Sie gelangt?

Zunächst ist es wichtig festzuhalten, dass die Studie aus der Perspektive der Entkolonialisierung und nicht aus anderen möglichen Blickwinkeln, wie zum Beispiel Gender, gemacht wurde. Der KFPE-Leitfaden für grenzüberschreitende Forschungspartnerschaften wurde erstmals 1998 veröffentlicht. Danach wurde er 2012 in einer stark überarbeiteten Form neu aufgelegt und besteht aus elf Grundsätzen und sieben Fragen. Seit 2012 hat sich in der Welt jedoch viel verändert. Angesichts der heutigen Herausforderungen in der Nord-Süd-Forschungszusammenarbeit sind einige der Grundsätze nicht mehr auf dem aktuellen Stand. Andere müssten vertieft werden. Dabei beziehe ich mich auf den Inhalt.

Und punkto Form?

Die Interviews, die ich mit Forschenden geführt habe, haben gezeigt, dass sie diese Leitlinien hauptsächlich als Checkliste nutzen – falls sie sie überhaupt verwenden. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den eigentlichen Herausforderungen scheint hingegen nur selten stattzufinden.

_______________________________________________________________________________________

«Wir müssen mehr darüber nachdenken, wie wir die tatsächlich vorhandenen Bedürfnisse ermitteln können»

_______________________________________________________________________________________

Sie haben es bereits angesprochen: Forschungsthemen und -fragen sowie die Methoden werden in der Regel vom Norden definiert. Dieses Problem wird auch in dem KFPE-Leitfaden geschildert. Gleichzeitig soll die Forschung aber auch den lokalen Bedürfnissen der «Beforschten» entsprechen, also den Ländern des globalen Südens. Wie lässt sich das miteinander vereinbaren?

Üblicherweise werden heute Workshops mit vielen verschiedenen Akteuren organisiert, um die lokalen Bedürfnisse an die Forschung und ihre Ziele zu erfassen. Wir haben aber festgestellt, dass lokale Interessenvertreter*innen und Wissenschaftler*innen aus dem Süden gelernt haben, die Sprache der Wissenschaftler*innen aus dem Norden zu sprechen. Wenn es zum Beispiel darum geht, die Abholzung zu verhindern, werden sie den Begriff Null-Abholzung in ihren Diskurs einflechten. Denn sie wissen, dass die Forschenden aus dem Norden genau das hören wollen. Als Folge davon befassen sich die Forschungspartner oft nicht eingehender damit, was die verschiedenen Akteure tatsächlich an Wissen brauchen. Es wird auch nicht darüber diskutiert, ob das Konzept aus der Perspektive und mit den Möglichkeiten des Südens sinnvoll ist. Deshalb müssen wir als Wissenschaftler*innen mehr darüber nachdenken, wie wir die tatsächlich vorhandenen Bedürfnisse ermitteln können.

Und was braucht es sonst?

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, bei den Führungsrollen und Verantwortlichkeiten in den Forschungsprojekten eine Balance zwischen den Partnern zu finden. Denn solange Projektleitungen und -koordinationen einseitig im globalen Norden angesiedelt sind, wird sich kaum etwas an dem Machtgefälle ändern. Forschende aus Kenia, Peru oder Madagaskar müssten daher von vornherein in die Definition von Forschungsfragen und die Leitung von Forschungsprojekts einbezogen werden. Auch Aufgaben wie Finanzmanagement und Rechenschaftspflicht gegenüber den Geldgebern müssten aufgeteilt und im direkten Austausch mit dem Geber wahrgenommen werden.

_____________________________________________________________________________

«Die Beiträge jüngerer Wissenschaftler aus dem Süden werden wissenschaftlich oft nicht zitiert»

_____________________________________________________________________________

In Ihrer Analyse weisen Sie darauf hin, dass die Rollen der Forschenden sehr ungleich verteilt sind. Daten sammeln, Workshops organisieren, etc. erledigen Wissenschaftler*innen aus dem Süden. Die Analysen und wissenschaftlichen Papers entstehen im Norden. Was bedeutet das – gerade für Nachwuchsforschende aus dem Süden?

Wissenschaftler*innen aus dem Norden sind viel näher am Prozess der Wissensgenerierung, einerseits wegen ihrer Führungsrolle, die sie in der Nord-Süd-Forschungszusammenarbeit haben, andererseits weil es für sie einfacher ist, wissenschaftliche Arbeiten zu veröffentlichen – und sei es nur aus finanziellen Gründen. Eine Open-Access-Publikation kostet etwa ab 2'000 Franken. Eine so hohe Gebühr kann für Forschende und Institutionen aus dem Süden unerschwinglich sein. Dazu kommt, dass die meisten Fachzeitschriften ihre Verlagshäuser im Norden haben.

Alles in allem bedeutet das: Gerade jüngere Forschende aus dem Süden, welche die Workshops organisieren und Daten sammeln, sind weniger sichtbar, und ihre Beiträge werden wissenschaftlich oft nicht zitiert. Und die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass jemand, der seine Sporen mit Datensammeln abverdient hat, Zeit seines Lebens Datensammler bleibt oder zu einer NGO geht.

_______________________________________________________________________________________

«Wenn gut ausgebildete Wissenschaftler*innen in den Süden zurückkehren, heisst das nicht unbedingt, dass sie weiterhin dort forschen können»

_______________________________________________________________________________________

Unter dem Strich beruhen diese Ungleichheiten auf der Tatsache, dass der Norden den Süden beforscht, aber nicht umgekehrt. Was verpasst der Norden, wenn er nicht vom Süden lernt bzw. die andere Sicht gar nicht erfährt?

Die Antwort liegt in Ihrer Frage: Es ist die andere, kritischere Perspektive. Da es in der Nord-Süd-Forschungszusammenarbeit primär um globale Herausforderungen geht, ist diese ein zentrales Element. Nehmen wir das Beispiel der Bauern im Masoala-Nationalpark in Madagaskar: Sie sind nicht die Hauptverursacher der Entwaldung. In einer ganzen Kette von Akteuren, die dafür verantwortlich sind, haben sie am wenigsten Einfluss. Es ist also wichtig zu untersuchen, wer welche Entwicklungen vorantreibt – insbesondere im Norden. Hier andere Sichtweisen einzubringen, wäre äusserst hilfreich und wichtig.

Der KFPE-Leitfaden nimmt auch das Thema Braindrain auf – und warnt davor, dass hochqualifizierte Wissenschaftler*innen aus dem Süden in den Norden abwandern könnten. Ihre Analyse hingegen fordert dazu auf, von der Haltung abzurücken, Forschende aus dem Süden für den Braindrain verantwortlich zu machen. Es gibt aber Bereiche – wie die Medizin – wo es existenziell werden kann, wenn es zu wenig einheimische Forschende gibt.

Was die Medizin angeht, so gilt es zwischen Ärztinnen und Forschenden zu unterscheiden. Als Praktiker müssen Ärzte natürlich nahe ihren Patientinnen und Patienten sein. Aber in der medizinischen Forschung? Nehmen wir die sogenannten vernachlässigten Tropenkrankheiten wie Zystizerkose, die afrikanische Schlafkrankheit oder Chikungunya: Wer hat die Mittel und Möglichkeiten, diese Krankheiten zu erforschen? Wer entscheidet darüber, ob man hier investiert? Das passiert im Norden. Stellt sich die Frage, warum dann nicht mehr dazu geforscht wird.

Sagen Sie es uns.

Weil es im Norden keine häufigen Krankheiten sind. Also gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder warten wir noch lange darauf, bis die Länder des Südens bereit sind, in die Forschung zu investieren, oder wir sorgen im Norden für eine Diversifizierung der entsprechenden Expertinnen und Entscheidungsträger. Denn oft kennen Forschende aus dem Süden Fälle aus ihrer Familie oder ihrem Umfeld, die an solchen Krankheiten gelitten haben und wären motiviert, diese zu erforschen.

Was den Braindrain betrifft: Wenn gut ausgebildete Wissenschaftler*innen in den Süden zurückkehren, heisst das nicht unbedingt, dass sie weiterhin dort forschen können. Für mich beispielsweise wäre es fast unmöglich, eine Stelle an einem Forschungsinstitut in Madagaskar zu finden, das über die Mittel und die Infrastruktur verfügt, die für die Forschung erforderlich sind. Stattdessen müsste ich hauptsächlich unterrichten oder in einer NGO arbeiten – es sei denn, jemand aus dem Norden käme und würde mich für ein Forschungsprojekt engagieren...

___________________________________________________________________________________

«Die Forschung kann ein Hebel sein, um die Ungleichheiten abzubauen»

___________________________________________________________________________________

Ist eine dekolonialisierte Forschungszusammenarbeit überhaupt möglich, solange die riesigen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und institutionellen Ungleichheiten zwischen Nord und Süd andauern?

Ich denke, wir müssen uns darüber im Klaren sein, was wir mit Kolonialisierung und Dekolonialisierung meinen. In den 1950er und 1960er Jahren waren die Dinge völlig anders als heute. Dekolonialisierung ist ein Prozess und hängt weitgehend von diesen Definitionen ab. Im Kern geht es aber immer um Machtungleichgewichte. Die Forschung kann ein Hebel sein, um diese Ungleichheiten abzubauen – sowohl in Bezug auf die Art, wie Forschungsprojekte konzipiert sind, als auch in Bezug, wie Projektleitende handeln und entscheiden. Beispielsweise wenn sie Arbeitsplätze in der Forschung schaffen und Personal für ihre Projekte rekrutieren, wenn sie Themen setzen, die dazu beitragen, die Kluft zwischen Nord und Süd zu verringern, oder wenn sie die Löhne von Wissenschaftler*innen aus dem Norden und Süden festlegen.

Was empfehlen Sie den Forschenden in der Schweiz, den Institutionen und der KFPE, um die Forschung zu dekolonialisieren?

Diversity ist der Schlüssel, um die Forschung zu entkolonialisieren. Unsere erste Priorität sollte also die Förderung der Vielfalt sein.

 

INFOBOX

Leitfaden und Jahreskonferenz der KFPE zur Dekolonisierung von Nord-Süd-Forschungspartnerschaften

Die KFPE hat 1998 erstmals einen «Leitfaden für Forschungspartnerschaften mit Entwicklungsländern» herausgegeben. Nach mehrjähriger Arbeit wurde dieser 2012 unter dem Titel «Leitfaden für grenzüberschreitende Forschungspartnerschaften» in überarbeiteter Form neu aufgelegt.

Dr. Ravaka Andriamihaja hat diese Prinzipien 2022 im Auftrag der KFPE aus der Perspektive der Dekolonisierung der Nord-Süd-Forschungskooperation untersucht. Die Studie dient dazu, die aktuellen Herausforderungen der Nord-Süd-Forschungskooperation zu identifizieren, die Merkmale einer dekolonisierten Nord-Süd-Forschungskooperation zu definieren und, basierend auf den Ergebnissen, die "11 Prinzipien und 7 Fragen" der KFPE zu diskutieren. Ende 2023 folgt in Zusammenarbeit mit weiteren Forschenden aus Kenia und Ghana eine KFPE-Publikation zu dieser Thematik. 

An ihrer Jahreskonferenz thematisiert die KFPE die Dekolonialisierung von Forschungspartnerschaften. Ab dem 19. April 2023 mit einer Serie von Online-Konferenzen und am 5. Mai an der eigentlichen Jahreskonferenz in Bern. Das Programm