«Indigenes Wissen kann helfen, neue Wege in eine bessere Zukunft zu finden»

Indigene Völker bewirtschaften und pflegen mehr als ein Viertel der irdischen Landfläche. Trotzdem bleibt ihre Perspektive in den Debatten über den Schutz von Biodiversität und Kulturlandschaften meistens aussen vor. Diesem Wissen mehr Raum zu geben, ist das Ziel eines Kongresses der International Society of Ethnobiology (ISE), der im Mai in Marrakesch stattfindet. Denn: «Es kann einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, um unsere aktuellen planetaren Krisen zu bewältigen», so CDE-Wissenschaftlerin und ISE-Präsidentin Sarah-Lan Mathez-Stiefel.

«Wir wollen nicht nur die biologische, sondern auch die biokulturelle Vielfalt erhalten»: Sarah-Lan Mathez-Stiefel. Foto: Per Tomas Kjaervic


Interview: Gaby Allheilig

Auf der Website des ISE-Kongresses steht: «Biodiversität und die Symbiose von menschlicher Aktivität und Umwelt, die sich in Kulturlandschaften ausdrückt, bieten reichhaltige Kost für globale Konferenzen.» Offensichtlich nicht nur für globale Konferenzen wie die UN-Biodiversitätskonferenz, sondern auch für die Internationale Gesellschaft für Ethnobiologie, deren Präsidentin Sie sind. Was bietet Ihr Kongress, was andere globale Konferenzen nicht tun?

Wir wollen verschiedene Perspektiven zusammenbringen, um einen Raum für Dialog, Lernen und Zusammenarbeit zu schaffen. Zu den Teilnehmenden gehören Akademikerinnen, Vertreter indigener Völker und lokaler Gemeinschaften, Praktikerinnen und Aktivisten. Mit dem Konzept der «Kulturlandschaften» wollen wir weit über die Biodiversität hinausgehen. Wir interessieren uns für die tiefe, intrinsische Beziehung zwischen menschlichen Gesellschaften und ihrer Umwelt. Dabei geht es darum, nicht nur die biologische, sondern auch die biokulturelle Vielfalt zu erhalten.

Was heisst das?

Die biokulturelle Vielfalt umfasst die verschiedenen Praktiken, Wissenssysteme, Gouvernanz-Mechanismen, Sprachen und sogar Weltanschauungen, die menschliche Gesellschaften und ihre Umwelt miteinander verbinden. All diese Elemente sind nötig, um Kulturlandschaften zu schaffen und zu erhalten – vor allem in den Gebieten indigener Völker und lokaler Gemeinschaften.

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«Andere Wissenssysteme sind sehr ausgefeilt und können ebenfalls als Wissenschaft bezeichnet werden»

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Warum ist das wichtig?

Weil indigene Völker und lokale Gemeinschaften ihre Umwelt ganzheitlich betrachten: Sie sehen die Natur – und damit die biologische Vielfalt – nicht als etwas, das ausserhalb der menschlichen Gesellschaften liegt, sondern als ein grosses Ganzes, mit der der Mensch in einer Beziehung steht und die man hegt und pflegt. Zudem sind indigene Völker und lokale Gemeinschaften für die verbleibenden sogenannt «natürlichen» Landschaften dieser Welt von entscheidender Bedeutung: Sie bewirtschaften und pflegen mehr als ein Viertel der weltweiten Landfläche, und ihre Gebiete überschneiden sich gemäss Schätzungen mit 40 Prozent aller terrestrischen Gebiete, die unter Schutz stehen oder als ökologisch intakte Landschaften gelten.

Der ISE-Kongress wird sich mit fünf Hauptthemen befassen, darunter die Auswirkungen des globalen Wandels auf die Kulturlandschaften sowie die Anwendung dekolonialer Ansätze. Was meinen Sie in diesem Zusammenhang mit «dekolonialen Ansätzen»?

Es gibt viele verschiedene Wissenssysteme. Der heute vorherrschende wissenschaftliche Diskurs ist nur eines davon, und er ist sehr stark geprägt von der westlichen Art, die Welt zu betrachten und zu verstehen – zum Beispiel von der Unterscheidung zwischen menschlicher Gesellschaft und Natur. Andere Wissenssysteme – wie jene der indigenen und lokalen Gemeinschaften – sind jedoch sehr ausgefeilt und lassen sich ebenfalls als Wissenschaft bezeichnen. Unter dekolonialem Ansatz verstehen wir, in wissenschaftlichen Debatten anderen Arten des Wissens, des Verstehens und des Lernens über die Umwelt einen gleichberechtigten Raum und eine Stimme zu geben.

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«Internationale Veranstaltungen sind ein sehr wichtiger Schritt, um andere Kenntnisse und Werte sichtbar zu machen»

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Geht es nur darum, andere wissenschaftliche Diskurse als gleichwertig mit dem unseren anzuerkennen? Oder soll der dekoloniale Ansatz auch zu einem anderen Umgang mit der Natur führen?

Ich denke, beides ist wichtig. Indigene und lokale Wissenssysteme können sehr wichtige Alternativen zu den heutigen globalen hegemonialen Systemen bieten, wenn es darum geht, die Welt zu verstehen und unsere planetaren Krisen zu bewältigen. Sie können helfen, neue Wege in eine bessere Zukunft zu entwerfen. Das ist nicht nur meine Meinung, sondern wird auch zunehmend in internationalen Foren wie dem Global Environmental Outlook 7 (GEO-7) des UN-Umweltprogramms UNEP anerkannt. Es war sogar ein Auftrag der UN-Mitgliedsstaaten, indigenes und lokales Wissen in diese internationale wissenschaftliche Bestandesaufnahme einzubeziehen.

Ist es nicht etwas utopisch zu glauben, dass jene, die von den grossen globalen Debatten weitgehend ausgeschlossen waren, nun plötzlich die Tore zu einer besseren Welt öffnen können?

Indigene und lokale Wissenssysteme können nur dann – und das ist wichtig – nur dann zu innovativen, alternativen Ansätzen inspirieren, wenn politische Entscheidungstragende und einflussreiche Akteure bereit sind, von ihnen zu lernen. Natürlich steht diese Bereitschaft seitens der Entscheidungstragenden auf einem anderen Blatt. Aber die Ausrichtung internationaler Veranstaltungen und wissenschaftlicher Assessments, bei denen diese Alternativen ausdrücklich hervorgehoben werden, ist ein wichtiger erster Schritt, um solche anderen Kenntnisse und Werte zugänglich zu machen. Weitere politische Schritte übersteigen unsere Aufgabe und unseren Einflussbereich als Forschende.

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«Indigene und lokale Gemeinschaften verstehen Wissen nicht als exklusives individuelles Eigentum»

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Aber Sie versuchen, die Debatte zu beeinflussen.

Ja, letztlich spiegelt das auch den Auftrag der ISE wider: einen Beitrag zu einer besseren Zukunft zu leisten, in der sowohl die natürliche Umwelt als auch die lokalen Gesellschaften, die auf sie angewiesen sind, gedeihen können.

Ein weiteres Thema, das der ISE-Kongress aufnimmt, sind die Rechte an Wissen und Daten. Eine kürzlich veröffentlichte Studie analysierte 27 nationale Biodiversitäts-Strategien und -Aktionspläne. Demnach respektieren die untersuchten Länder die Rechte indigener Völker und lokaler Gemeinschaften an ihrem traditionellen Wissen stärker als andere Rechte – etwa das Recht, nicht von ihrem angestammten Land vertrieben zu werden. Warum also wird das Thema Wissen und Daten auf dem Kongress so stark thematisiert?

Die Art, wie einflussreiche Akteure mit Wissen umgehen, ist in der Regel an wirtschaftliche und/oder politische Interessen gebunden. Indigene und lokale Gemeinschaften verstehen Wissen nicht als exklusives individuelles Eigentum, sondern als kollektives Gut. Aber ihr Wissen wird häufig von externen Akteuren ohne angemessene Entschädigung oder Anerkennung übernommen und genutzt. Ein typisches Beispiel dafür ist das indigene Wissen über Heilpflanzen, das von Pharmaunternehmen verwendet wurde, um Arzneimittel zu entwickeln – vielfach ohne die indigenen Gemeinschaften dafür zu entschädigen. Solche Fragen des Eigentums und der Gerechtigkeit machen es nötig, dass wir uns mehr mit den Rechten indigener Völker an ihrem Wissen und ihren Daten befassen und sicherstellen, dass diese Rechte respektiert werden – auch im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung.

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«Wir versuchen, Anregungen für politische Massnahmen zu geben»

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Welche konkreten Ergebnisse erwarten Sie von diesem Kongress?

Durch den Austausch wollen wir innovative Denkansätze für den Umgang mit biokulturellen Landschaften entwickeln und Anregungen für politische Massnahmen geben, mit denen sich ökologische und soziokulturelle Herausforderungen anpacken lassen. Der Kongress könnte zu offiziellen Erklärungen, neuen Initiativen, wissenschaftlichen Produkten, spezifischen Kooperationen, gestärkten Netzwerken und mehr führen. Als Organisierende wollen wir diese Ergebnisse aber nicht im Voraus festlegen. Stattdessen wollen wir Raum für einen Anlass bieten, den die Teilnehmenden selbst gestalten.

ISE-Kongress 2024

Der 18. Kongress der International Society of Ethnobiology (ISE) stellt die Biodiversität und Kulturlandschaften ins Zentrum und verweist auf die engen Beziehungen zwischen Tieren, Pflanzen und anderen Lebensformen, die in eine von Menschen gestaltete Umwelt eingebettet sind. Der Kongress findet vom 15. bis 19. Mai 2024 in Marrakesch, Marokko, statt. Organisiert wird er von der Cadi Ayyad University, Marrakesch, dem Centre for Development and Environment der Universität Bern, der International Society of Ethnobiology, dem Institut de Recherche pour le Développement, der Marokkanischen Biodiversity and Livelihoods Association, sowie der Global Diversity Foundation.