Interview: Gaby Allheilig
Sie waren Mitglied eines Gremiums von Wissenschaftler*innen, die kürzlich Bundesrat Parmelin einen 70seitigen Bericht übergeben haben (siehe Box am Schluss). Darin fordert das Gremium tiefgreifende und schnelle Veränderungen im schweizerischen Agrar- und Ernährungssystem. Warum hat die Wissenschaft jetzt diesen Leitfaden «zu den grössten Hebeln und politischen Pfaden» für ein nachhaltiges Ernährungssystem präsentiert?
Es ist eine Frage der Dringlichkeit. Die Debatte, wie wir das ganze Ernährungssystem nachhaltig ausrichten können, ist zwar angelaufen. Aber der Zeithorizont, bis auf politischer Ebene ausreichend tiefgreifende Massnahmen umgesetzt werden sollen, zieht sich bis 2050 – das dauert viel zu lange. Deshalb schlagen wir jetzt Massnahmen vor, die bis 2030 kontinuierlich aufgegleist werden müssen. Denn die Probleme, die wir uns im Zusammenhang mit der Klima- und Biodiversitätskrise sowie den natürlichen Ressourcen einhandeln, nähern sich einer Grenze, wo wir mit negativen Kipppunkten rechnen müssen. Das heisst: Danach verschlechtert sich die Situation massiv und wird teils irreversibel, so dass die Ernährungssicherheit in der Schweiz und global nicht mehr gewährleistet sein wird.
Bundesrat Parmelin hat bei der Übergabe des Berichts gesagt, viele Ziele und Massnahmen würden sich mit dem Bericht des Bunderats zur Weiterentwicklung der Agrarpolitik bis 2050 decken. Im Parlament sieht es derzeit aber mehr nach Polarisierung und Blockade aus.
Auch das war eines unserer Ziele: Wir brauchen eine Versachlichung der Diskussion. Die Thematik ist politisch und emotional stark aufgeladen. Deshalb ist es wichtig, dass wir seitens der Wissenschaft umfassend Stellung nehmen. Es gehört ja auch zu den Aufgaben der Wissenschaft, den politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern die Grundlagen zu liefern, damit sie geeignete Massnahmen in die Wege leiten können. Darüber, dass es eine tiefgreifende Transformation des gesamten Ernährungssystems braucht, besteht in der Wissenschaft Konsens. Auf die Frage, wie man das machen könnte, haben wir jetzt Vorschläge geliefert.
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«Alle Akteure entlang der Wertschöpfungskette müssen mitgedacht werden»
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War es einfach, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen?
Wir waren ein Gremium von über 40 Expertinnen und Experten aus verschiedenen Hochschulen, Forschungsanstalten und Disziplinen und haben die Thematik aus allen relevanten Perspektiven beleuchtet. Einerseits ist das eine grosse Herausforderung, andererseits ist der Austausch und die Diskussion unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die verschiedene Aspekte des Ernährungssystem erforschen und unterschiedliche Gewichtungen haben, äusserst wichtig – gerade angesichts der Komplexität des Ernährungssystems. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein längerer Austausch- und Verständigungsprozess nötig war, um die Ziele und Massnahmen zu erarbeiten.
Als Agrarhistorikerin mit dem Fokus auf nachhaltige Ernährungssysteme und Wertschöpfungsketten haben Sie selbst auch einen spezifischen Hintergrund. Was ist aus Ihrer Sicht das Wichtigste dieses wissenschaftlichen Berichts?
Es gibt kein Ziel und keine Massnahme, das oder die für sich allein genommen am wichtigsten ist. Es ist ein Gesamtpaket mit elf Zielen und 39 Massnahmen. Das heisst auch, alle beteiligten Akteure und Stufen der ganzen Wertschöpfungskette – von der Landwirtschaft, dem verarbeitenden Sektor, dem Handel, der Gemeinschaftsgastronomie in Kitas, Spitälern, Schulkantinen, etc. bis hin zu den Konsumierenden müssen mitgedacht werden. Die Massnahmen sind aufeinander abgestimmt und haben eine zeitliche Abfolge. So muss man zum Beispiel zuerst geeignete Förderinstrumente schaffen, damit sich tiefergreifende Einschnitte und Veränderungen vorbereiten und abfedern lassen.
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«Wir haben keine Massnahme vorgeschlagen, die die Werbung für Fleisch verbietet»
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Das Wissenschaftsgremium schlägt einen Transformationsfonds dafür vor. Was will man damit konkret machen?
Mit ihm sollen unter anderem Veränderungen in der Aus- und Weiterbildung über die ganze Wertschöpfungskette ermöglicht werden, genauso wie Ausgleichsprämien für landwirtschaftliche Umstellungen – etwa um die Tierbestände reduzieren zu können – oder die Förderung einer nachhaltigen und gesunden Ernährung in der Ausser-Haus-Verpflegung.
Es hat auch einen ganzen Katalog an regulatorischen Massnahmen und Lenkungsabgaben.
Ja, und das finde ich auch ehrlich. Wir können das Ernährungssystem nicht mit einer einzigen Methode grundlegend transformieren. Mit positiven Anreizen alleine, die auf Freiwilligkeit basieren, stösst man an Grenzen. Deshalb braucht es auch regulatorische Massnahmen und Lenkungsabgaben, die für alle gelten. Wichtig dabei ist, dass die vorgeschlagenen Massnahmen und Methoden ineinandergreifen.
Einige Medien haben den Bericht daran aufgemacht, dass die Wissenschaft die Werbung für Fleisch verbieten will…
…was eine stark verkürzte Schlagzeile ist. Unter unseren Vorschlägen gibt es keine Massnahme, mit der die Werbung für Fleisch verboten würde. Richtig ist: Mit einer unserer 39 Massnahmen wollen wir erreichen, dass keine Mittel aus dem Agrarbudget – also Steuergelder – für die Werbung von Fleischprodukten verwendet werden. Hintergrund dieses Vorschlags ist, dass die Branchenorganisation Proviande mit dem Leistungsauftrag des Bundes heute auch Gelder für Marketing ausgeben darf, um den Konsum von Schweizer Fleisch zu fördern. Diese Steuergelder könnte man für Sinnvolleres verwenden, beispielsweise, um den vorgeschlagenen Transformationsfonds zu speisen und damit vorhandene Probleme an der Wurzel zu packen.
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«Auch der Handel und die Konsumierenden stehen in der Verantwortung, nicht nur die Landwirtschaft»
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Aber ein Vorschlag des Wissenschaftsgremiums lautet, Niedrigpreis-Promotionen für tierische Produkte durch Detailhandel und Discounter zu verbieten.
Hier geht es nicht um Fleischwerbung, sondern um Dumpingpreise. Der Detailhandel setzt heute rund die Hälfte des Fleisches über Aktionen, teils für importiertes Fleisch, ab. Bei Milchprodukten gibt es ebenfalls häufig Billig-Promotionen. Diese schaffen Kaufanreize und stärken das Bild, Fleisch und Milchprodukte müssten günstig sein, damit man sich diese jeden Tag in beliebigen Mengen leisten kann. Das ist eine total falsche Botschaft. Um die Wertschätzung der Konsumierenden für Nahrung, insbesondere für Fleisch und Milchprodukte zu verändern – und das ist nötig – müssen sie bereit sein, einen entsprechenden Preis zu bezahlen. Und der Gesetzgeber muss den Handel stärker in die Verantwortung einbinden. Nur bei der Landwirtschaft anzusetzen, reicht nicht aus.
Für die heutige Situation ist sie jedoch mitverantwortlich – das liest sich auch im Bericht.
Unser Bericht ist ein Gesamtpaket, in dem wir aufzeigen, wie man zu einem nachhaltigen Ernährungssystem kommen kann, das im Einklang mit den Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030, aber auch mit den Zielen der schweizerischen Bundesverfassung steht. Die zu hohen Tierbestände in der Schweiz sind dabei ein wichtiger, aber nicht der einzige Faktor. Um alle Nutztiere zu füttern, importieren wir heute gleich viele Futtermittel, wie wir selbst auf unseren Ackerflächen produzieren können. Würden wir konsequent eine standortgerechte und nachhaltige Landwirtschaft mit geschlossenen Stoffkreisläufen betreiben, hätte das automatisch eine Senkung der Tierbestände zur Folge. Die Frage ist, wie wir dorthin kommen.
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«Wir müssen die Tierbestände wieder an die national vorhandenen Futterkapazitäten binden»
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Wie denn?
Das heisst unter anderem, die Tierbestände wenigstens wieder an die national vorhandenen Futterkapazitäten und Flächen zu binden. Das bedeutet für jede Tiergattung etwas anderes. Als ausgesprochenes Grasland müssen wir bei Rindern und Kühen weg von der intensiven Produktion hin zu einer tatsächlich umgesetzten graslandbasierten Fütterung mit möglichst wenig anderen Futtermitteln. Die Bestände müssten verhältnismässig nur wenig zurückfahren werden. Anders verhält es sich bei den viel zu hohen Schweine- und Hühnerbeständen. Diese Tiere brauchen proteinreiches Futter, das zu einem grossen Teil importiert wird und auch im Inland Ackerland beansprucht. Dieses sollten wir nach dem Prinzip «Feed no food» besser für den Anbau von Leguminosen, Getreide, etc. für den menschlichen Direktkonsum nutzen.
Läuft das nicht darauf hinaus, dass wir einfach mehr Fleisch importieren?
Günstiges Fleisch einzuführen, das unter Umständen unter schlechteren Konditionen produziert wurde als in der Schweiz, ist natürlich nicht die Lösung. Weder für unsere Landwirtschaft noch mit Blick auf die Verantwortung, die wir als Land, das rund die Hälfte seiner Lebensmittel importiert, international tragen. Deshalb haben wir auch Massnahmen formuliert, die beim Handelssystem ansetzen. Dazu forschte auch ein Team am CDE: Im Dezember 2022 hat es aufgezeigt, wie wir zu einem nachhaltigen Agrarhandel kommen könnten, und ein entsprechendes hypothetisches Bundesgesetz formuliert.
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«Wir können den Selbstversorgungsgrad erhöhen, sind aber trotzdem auf Importe angewiesen»
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Womit wir beim Argument «Selbstversorgungsgrad erhöhen!» angelangt wären...
… einem Argument, das nicht greift. Heute liegt dieser in der Schweiz brutto bei 56 Prozent und netto – das heisst, wenn man alle importierten Futtermittel miteinbezieht – bei 49 Prozent. Der Selbstversorgungsgrad basiert auf einer Kalorien-Berechnung. Wenn wir die Schweizer Ackerflächen anstelle von Futtermittelanbau für Pflanzenbau nutzen und unsere Ernährung weit stärker als heute, aber nicht ausschliesslich, auf Pflanzenbasis ausrichten, lässt sich der Selbstversorgungsgrad in der Schweiz sogar erhöhen. Das würde auch mit der Planetary Health Diet übereinstimmen.
Aber: Zu glauben, dass wir uns fast zu 100 Prozent selbst versorgen könnten, ist unrealistisch – selbst wenn wir die Tierbestände senken. Wir sind auf Importe angewiesen. Deshalb ist es äusserst wichtig, einerseits einzufordern, dass der Gesetzgeber bei den Importen Nachhaltigkeitsstandards verlangt, und andererseits, dass wir in unserem Land mit Böden und natürlichen Ressourcen nachhaltig umgehen.
Sie haben eingangs gesagt: Wenn wir so weiterfahren wie bisher und nicht schnell handeln, drohe sich die Situation punkto natürlicher Ressourcen, Klima- und Biodiversitätskrise so zu verschlechtern, dass auch die Ernährungssicherheit gefährdet ist. Steuern wir in diese Richtung, falls das Parlament in einigen Tagen tatsächlich eine Agrarpolitik 22+ verabschiedet, in der wichtige Massnahmen punkto Umwelt weiter auf die lange Bank geschoben werden?
Die Agrarpolitik 22+ wurde vor dem Hintergrund der Pestizid- und Trinkwasserinitiativen entwickelt, über die die Schweizerinnen und Schweizer 2021 abstimmten. Das Bundesamt für Landwirtschaft und der Bundesrat hatten versucht, den Anliegen der Initiativen entgegenzukommen. Auch die Parlamentarische Initiative «Das Risiko beim Einsatz von Pestiziden reduzieren» verlangt unter anderem, einen Absenkpfad für den Einsatz von Pestiziden und Nährstoffen gesetzlich zu verankern. Letzteres ist zur Hälfte in Umsetzung – und positiv zu vermerken. Mittlerweile ist der Prozess aber ins Stocken geraten und erhält Gegenwind. Wenn die Räte jetzt dringend nötige Massnahmen verwässern, wie zum Beispiel bei der Senkung der Stickstoff- und Phosphoreinträge, ist das fatal. So bleiben wir noch viel zu lange bei einer intensiven Landwirtschaft mit massiven Emissionen und negativen Auswirkungen für das Klima.
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«Jetzt nicht zu handeln, finde ich unverantwortlich»
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Auch die Kleinbauernvereinigung hat dazu verlauten lassen, dass so wichtige Zeit ungenutzt verstreicht – und zwar «für die Landwirtschaft als Betroffene und Mitverursacherin». Schadet sich der Bauernstand in Allianz mit Wirtschaftsvertreter*innen also selbst, wenn er die nötigen Veränderungen verzögert?
Meiner Meinung nach ja. Denn die Landwirtschaft ist ganz direkt abhängig von gesunden Ressourcen. Das ist ihre Basis, um qualitativ hochstehende Lebensmittel mit ausreichendem Ertrag zu produzieren. Wenn Bodenfruchtbarkeit und Biodiversität weiter so degradiert und die Folgen des Klimawandels nicht abgeschwächt werden, sinken selbstverständlich auch die Erträge. Und je länger man zuwartet, desto grösser werden die Schäden und Folgekosten für die Volkswirtschaft sein. Dann wird es weit radikalere Einschnitte und teurere Massnahmen brauchen. Jetzt nicht zu handeln und Landwirtinnen und Landwirte mit Investitionshilfen weiterhin dazu zu animieren, neue Ställe zu bauen, wenn sie gar nicht genügend Land haben, um die Tiere mit Futter zu versorgen, finde ich unverantwortlich.
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«Ich bin überzeugt, dass unsere Anregungen nicht einfach im Sand verlaufen»
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Der Bauernverband sieht darin aber ein Mittel, um die Existenz der landwirtschaftlichen Betriebe zu sichern.
Möchte man den Bauernstand und die Landwirtschaftsbetriebe erhalten, muss die Landwirtschaft darin unterstützt werden, auf agrarökologische Methoden umzustellen und die Betriebe zukunftsorientiert auszurichten. Dafür braucht es unter anderem Lenkungsmassnahmen, die eine nachhaltige Produktion erleichtern und negative Entwicklungen erschweren; aber auch Anpassungen bei der landwirtschaftlichen Aus- und Weiterbildung sowie bei der Beratung. Zudem ist es wichtig, technische Innovationen zu fördern, wie die Entwicklung und der Einsatz von Pflanzenkohle.
Und wie soll es bei der momentanen Ausgangslage mit dem wissenschaftlichen Bericht weitergehen?
Der Bericht trägt als Anstoss wesentlich zur laufenden Debatte bei. Wir schlagen die Schaffung einer Zukunftskommission Ernährungssystem vor, bei der alle beteiligten Akteure miteinbezogen werden. Daran lässt sich anknüpfen, um die Weichen jetzt anders, also zukunftsorientiert zu stellen. Ich bin überzeugt, dass unsere Anregungen nicht einfach im Sand verlaufen, auch wenn sie nicht eins zu eins umgesetzt werden.