Interview: Gaby Allheilig
Der Bundesrat hat den Länderbericht der Schweiz zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung veröffentlicht. Darin nennt er als Herausforderungen unseren viel zu hohen Ressourcenverbrauch sowie die volle Lohngleichheit von Mann und Frau. Sonst scheint man in Bundesbern mit dem Kurs der Schweiz punkto Nachhaltigkeit ziemlich zufrieden zu sein. Teilen Sie diese Meinung?
Die Agenda 2030 stellt alle Länder vor zwei zentrale Herausforderungen – auch die Schweiz: Erstens müssen wir den Wohlstand neu «erfinden». Er muss gerecht verteilt sein, also alle Menschen einbeziehen, und sich innerhalb der ökologischen Belastungsgrenzen unseres Planeten bewegen. Das führt uns zum zweiten Punkt: Wir müssen aufhören, die Staaten territorial zu denken. Denn alles ist heute global vernetzt, sei dies in der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, beim Konsum, der Information – und auch der Migration. Bei beiden zentralen Herausforderungen ist die Schweiz noch weit vom Ziel entfernt. Wir können nicht zufrieden sein, wenn wir uns darauf beschränken, sektorielle Fortschritte aufzuzählen und punktuell einzelne Probleme anzusprechen. Im Bericht des Bundesrats fehlt das Bekenntnis zu einer integralen Vision; geschweige denn zeigt er Handlungsoptionen auf.
________________________________________________________________________
«Viele unserer Politikfelder beissen sich in ihrer Zielsetzung»
________________________________________________________________________
Wo sehen Sie die zentralen Punkte, welche die Schweiz anpacken muss?
Zum einen müsste man die Agenda 2030 auf politischer Ebene anders verankern: an einer zentralen Stelle, die auch aufzeigen könnte, für welche Interessenskonflikte wir Lösungen finden müssen. Zum andern bräuchte es Finanzen für die Umsetzung. Und schliesslich müsste man die verschiedenen Sektorpolitiken kohärent gestalten wollen. Denn wir haben viele Politikfelder, die sich in ihrer Zielsetzung beissen. Diese gilt es zu benennen und anzugehen – egal, ob es sich um die Landwirtschafts-, Migrations- oder Bildungspolitik handelt, um nur einige zu nennen.
Nehmen wir das Beispiel Landwirtschaft: Hier stehen Volksabstimmungen ins Haus, die explizit Aspekte einer nachhaltigeren Politik verankern wollen. In seinem Länderbericht nennt der Bundesrat aber gerade diesen Sektor als positives Beispiel für die schweizerische Politik in Sachen Nachhaltigkeit. Worauf deutet das?
In der Landwirtschaftspolitik hat die Schweiz durchaus etwas erreicht. Wir haben uns beispielsweise eine vielfältige und räumlich feingliedrige Landwirtschaft erhalten. Auch der Wille, sie ökologisch auszurichten, ist ein Pluspunkt. Gleichzeitig sprechen wir aber nicht darüber, wie viel Land, Wasser und Energie wir in andern Regionen der Welt beanspruchen, um unser Essen und Trinken zu produzieren. Oder wie wir uns als Konsumenten verhalten. Wir fragen nicht danach, welche Arbeitsplätze wir mit unseren Handelsabkommen in Asien schaffen oder welche Folgen unsere Exportförderung für Afrika hat. Da übernehmen wir keine Verantwortung. All das ist aber auch Teil der Landwirtschaftspolitik. Kurz: Wenn wir alles nur innerhalb der Schweizer Grenzen und in einem sektoriellen Silo wie «Landwirtschaft» denken, können wir keine Politikkohärenz erreichen.
____________________________________________________________________________________
«Die Schweiz wird hier ihrem internationalen Renommee nicht gerecht»
____________________________________________________________________________________
Als Vertreter der Wissenschaft haben Sie in der Begleitgruppe zum Schweizer Länderbericht mitgewirkt. Die NGOs stossen sich daran, dass von der Arbeit dieser Gruppe fast nichts in den offiziellen Bericht eingeflossen sei. Was fehlt Ihrer Meinung nach am meisten?
Der Prozess, der während zwei Jahren aufwändig stattfand, hat in diesem Bericht keine Abbildung gefunden. Das stört mich als Person, die an diesem Prozess beteiligt war, aber auch noch aus folgendem Grund: Die Schweiz wird ihrem internationalen Renommee hier in keiner Weise gerecht – ihrem Ruf, ein Vorbild in inklusiven, partizipativen Prozessen zu sein. Das ist sicher für viele enttäuschend.
Warum ist das so wichtig?
Das hängt mit der Qualität des Prozesses zusammen, der stattgefunden hat. Es war ein gesteuerter Prozess, der auf Wissen und Konsens beruhte. Es war uns ein Anliegen, diesen Prozess faktenbasiert zu gestalten, um festgefahrene Standpunkte zu überbrücken und zu gemeinsamen Positionen zu gelangen. Und genau das ist uns in der Gruppe zusammen mit den beteiligten Bundesämtern gelungen: Wir haben auf der Basis von Kompetenzen und Wissen die Herausforderungen der Schweiz für eine nachhaltige Entwicklung definiert und am Schluss einen Katalog an Handlungsoptionen erstellt – von economiesuisse über Pro Natura bis hin zur Caritas.
___________________________________________________________________________________________
«Die Begleitgruppe hat den Prozess vorgespurt, den die Agenda 2030 braucht»
___________________________________________________________________________________________
Diese Positionen sind nicht rechts und nicht links, weder wirtschaftsfreundlich noch -feindlich. Sie zeigen nüchtern auf, woran die Schweiz für eine gute Zukunft arbeiten muss. Das ist für mich genau der Prozess, den die Agenda 2030 braucht, und er wurde in der Begleitgruppe vorgespurt. Was in diesem kleinen Labor passiert ist, hat für mich Modellcharakter fürs grosse Ganze.
Gibt es nach dem bundesrätlichen Bericht denn noch eine zweite Chance?
Ich würde sagen: Jetzt erst recht! Wir müssen auf diesem erfolgreichen Prozess aufbauen. Es mag antizyklisch klingen, aber es führt kein Weg daran vorbei: Es braucht Dialog und Konsens. Mit politischer Polarisierung und reiner Interessensvertretung können wir in der Agenda 2030 keine Fortschritte erzielen.
Sie selbst sehen in der Agenda 2030 eine grosse Chance, die Globalisierung positiv gestalten zu können. Wieso?
Die Stimmen, die meinen, wir könnten die Globalisierung stoppen oder rückgängig machen – zum Beispiel indem wir die Grenzen schliessen – haben weltweit Konjunktur. Diese Tendenz müssen wir sehr ernst nehmen. Sie verstärkt die Dringlichkeit zu zeigen, dass man Globalisierung auch anders gestalten kann als bisher. Mit der Agenda 2030 haben wir den Willen gezeigt und ein Instrument geschaffen, tatsächlich über die Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Sektoren, zwischen den verschiedenen Regionen dieser Welt, zwischen Nord und Süd zu sprechen. Das ist für mich eine Quelle der Hoffnung.
___________________________________________________________________________________________
«Den Wohlstand verändern bedeutet nicht Verzicht, sondern: kreatives Potenzial entwickeln und nutzen»
___________________________________________________________________________________________
Erstens sind so die grossen und wichtigen Fragen auf den Tisch gekommen. Und zweitens sehen wir jetzt auch, dass wir nicht nur Herausforderungen zu bewältigen haben. Wir sind auch auf zahlreiche Synergie-Möglichkeiten gestossen, die bisher nicht genutzt wurden, um eine nachhaltige Entwicklung zu gestalten.
Was heisst das konkret?
In den letzten 30 Jahren gab es für nachhaltige Entwicklung immer die eine, gleiche Sequenz: Zuerst muss man die Wirtschaft ankurbeln. Wenn man das geschafft hat, schaut man die sozialen Aspekte und dann vielleicht noch die Umwelt an. Wenn wir das Ganze jedoch systemisch angehen, sehen wir, dass es noch ganz viele andere Pfade gibt. Pfade, an die man noch gar nicht gedacht hat. So kann zum Beispiel die Förderung von Bildung unter Umständen eine viel grössere Kettenwirkung auf das ganze System entfalten – also Wirtschaft, Soziales und Umwelt – als wenn man direkt in der Wirtschaft, und nur dort, ansetzt.
Das heisst: Die Zeit des absoluten Wirtschaftsprimats ist abgelaufen?
Wenn das übergeordnete Ziel lautet, Wohlstand für alle Menschen dieser Erde zu schaffen und dabei die Natur und vorhandenen Ressourcen zu respektieren, dann kann die Wirtschaft bzw. ihr Wachstum nicht mehr Selbstzweck sein. Dann ist sie ein Mittel, um das Ziel zu erreichen. Wenn wir bereit sind, uns dies einzugestehen, sind wir auch frei, über die Wirtschaft – und nicht nur Reichtum – nachzudenken. Welche Rolle muss sie spielen und welche neue Rolle kann sie übernehmen? Dort, wo Menschen in Armut leben, braucht es sicher noch Wirtschaftswachstum. An andern Orten hingegen geht es jetzt darum, den erreichten Wohlstand zu halten und ihn so zu verändern, dass er ökologisch und gerecht ist. Das ist nicht mit Verzicht gleichzusetzen, sondern bedeutet, dass wir kreatives Potenzial entwickeln und nutzen müssen.