Naturpärke in Frankreich: Wird da ein neues Leben erfunden?

Frankreichs Regionale Naturpärke seien «Innovations-Labore» für nachhaltige Entwicklung, so Thomas Hammer, langjähriger Professor am CDE und der Uni Bern. In seinem neuen Buch zeigt er auf, wie sie sich von Bewahrern der Natur zu einflussreichen Akteuren des Wandels entwickelt haben. Wie gelingt es ihnen, Biodiversität zu schützen und zugleich Wege für eine zukunftsorientierte Regionalentwicklung zu eröffnen? Welche Herausforderungen bleiben – und worin unterscheiden sie sich von ihren Schweizer Pendants?

Thomas Hammer
«Die französischen Naturpärke waren im ländlichen Raum immer ihrer Zeit voraus»: Thomas Hammer. Foto: CDE


Interview: Gaby Allheilig

Sie haben Jahrzehnte europaweit zu Naturpärken und Regionalentwicklung geforscht. In Ihrem Buch bezeichnen Sie die regionalen Naturpärke in Frankreich nun als «Pioniere» des Wandels in Richtung Nachhaltigkeit. Warum ausgerechnet die französischen Pärke?

Aufgrund meiner Forschungsarbeiten hat sich bei mir der Eindruck verdichtet, dass die Pärke in Frankreich immer sehr innovativ und im ländlichen Raum der Zeit voraus waren. Sie sind auf lokaler Ebene Pioniere bei der Einführung von Neuerungen, die in Richtung Nachhaltigkeit zielen. Vor rund drei Jahren habe ich mich entschlossen, durch die Brille der Transformationsdebatte – die Diskussion über den tiefgreifenden Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft, die es für eine nachhaltige Entwicklung braucht – genauer hinzuschauen und zu analysieren, inwieweit die Naturpärke in Frankreich als Akteure des Wandels bezeichnet werden können. Und ich kam zum Schluss, dass sie viele Aspekte vereinen, die dies rechtfertigen.

Welche sind das?

Dafür müssen wir kurz zurückblicken: Schon 1967 haben die französischen Behörden mit den ersten Naturpärken ein neues Modell entwickelt – als Alternative zu den Nationalpärken, die oft am Widerstand gegen einen Top-Down verordneten Naturschutz scheiterten. Im Unterschied zu diesen sollten die Naturpärke Bottom-Up-Entwicklungen des Naturschutzes ermöglichen, bei dem lokale Bevölkerungen und Akteure mitwirken, um Lösungen für komplexe Herausforderungen zu suchen.

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«Die französischen Pärke schaffen es, festgefahrene Situationen zu überwinden»

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Unterdessen sind die französischen Pärke zu Akteuren der Zukunftsgestaltung geworden. Sie vertreten beispielsweise seit rund 20 Jahren die Position, das Mensch-Natur-Verhältnis zu verändern, die menschlichen Gesellschaften mit der Natur zu versöhnen und eine Kultur des zukunftsgerichteten Denkens und Handels zu fördern. Das spiegelt sich auch in ihrem Leitspruch wider: «Hier wird ein anderes Leben erfunden».

Map with Nature parks in France
Die 59 Regionalen Naturpärke in Frankreich (Stand Oktober 2024). Quelle: Fédération des Parcs

Regionale Naturpärke (Parcs Naturels Régionaux, PNR) sind in Frankreich national anerkannte Grossschutzgebiete. Seit ihren Anfängen 1967 sind 59 PNR mit einer Fläche von 103′000 km2 entstanden. Das entspricht über 16 Prozent der Landesfläche. Zum Vergleich: Die aktuell 20 Naturpärke der Schweiz – inklusive des Nationalparks – decken rund 6000 km2 ab, was über 14 Prozent der Landesfläche entspricht.

In den 5200 beteiligten französischen Gemeinden leben 5,2 Millionen Menschen. Die Gemeinden und deren Verbände, die jeweiligen Departements sowie die Regionen, in denen die Gemeinden liegen, bilden gemeinsam die Trägerschaft eines Parks.

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Was tun sie heute konkret punkto nachhaltiger Entwicklung?

Ihre Palette an Aktivitäten ist viel breiter als in ihren Anfängen. Sie betreiben das, was sich als Transformations-Management bezeichnen lässt: Zusammen mit den verschiedenen Akteuren erarbeiten sie Visionen, wie das gesamte Gebiet eines Naturparks im Sinne der Nachhaltigkeit entwickelt werden soll, setzen Programme um, evaluieren und verbreiten diese. Gleichzeitig machen sie in ihren Schwerpunktbereichen wie Landwirtschaft und Ernährung, Biodiversität und Naturschutz, Klima und Energie auch Transitions-Management: Sie treiben den Wandel voran, indem sie die lokalen Akteure dazu motivieren, Innovationen anzupacken und zu experimentieren – insbesondere auch soziale und kulturelle Neuerungen.

Die Stärke der französischen Pärke liegt darin, dass sie es schaffen, verschiedene Akteure zusammenzubringen, zwischen konfligierenden Interessen zu vermitteln, fest gefahrene Situationen zu überwinden, Lösungen zu suchen und Synergien zu schaffen.

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«Die Pärke machen viel mehr als Tourismus-Förderung»

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In der Schweiz haben Umweltverbände schon kritisiert, dass das Park-Label hierzulande vor allem dem Marketing für Tourismus und der Vermarktung lokaler Produkte dient. Ist das in Frankreich also anders?

Das weit verbreitete Bild, die Naturpärke würden vor allem den Tourismus fördern, stimmt gerade in Frankreich schon lange nicht mehr. In den 1980er und 1990er Jahren wurden in vielen Ländern neue Instrumente für den Naturschutz entwickelt. In Frankreich wurde die Aufgabe damals an die Naturpärke übertragen, zusammen mit den Gemeinden die entsprechenden Konzepte für Natur- und Landschaftsschutz zu erarbeiten. In der Folge entwickelten sie mit den lokalen Akteuren die notwendigen Massnahmen und schieden die eigentlichen Naturschutzgebiete aus.

In der Schweiz verlief die Entwicklung anders. Als hier 2007 die ersten Naturpärke entstanden, waren schon viele Naturschutzgebiete ausgeschieden worden. Aber auch die Schweizer Pärke machen viel mehr als Tourismusförderung. Sie verstehen sich wie in Frankreich als Akteure nachhaltiger Regionalentwicklung.

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«Sie wollen zum Beispiel eine Ernährung ermöglichen, die saisonal, ökologisch und gesund ist – und auch schmeckt»

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Gibt es konkrete Beispiele für echte Transformationen, die die französischen Naturpärke erreicht haben?

Ein gutes Beispiel ist der Bereich Landwirtschaft und Ernährung: In den 1960er und 1970er Jahren haben die Pärke lokale Produkte gefördert, dabei aber nur bei der Produktion angesetzt. Sie haben schnell gemerkt, dass das allein nicht reicht. Heute liegt ihr Fokus auf der ganzen Ernährungskette – von der Produktion über Verarbeitung, Vertrieb bis zum Konsum. Dabei versuchen sie, eine sinnvolle Linie zu finden, wie nach ökologischen Grundsätzen lokal produziert und konsumiert werden kann.

So haben sie etwa Projekte der Gemeinschaftsverpflegung initiiert und bieten Ausbildungen an, wie sich lokale Küche modernisieren lässt. Dies mit dem Ziel, eine Ernährung zu ermöglichen, die saisonal, ökologisch und gesund ist – und auch schmeckt.

Die Schweizer Naturpärke bieten auch lokale Erzeugnisse an. Meist handelt es sich dabei um Milchprodukte, Würste, Honig, Gebäck, etc. Geht es in Frankreich darüber hinaus?

Definitiv. In der Schweiz werden diese Produkte unter dem Regio Plus-Label vermarktet und die Idee verbreitet, lokal sei automatisch auch nachhaltig. Aus Nachhaltigkeitssicht stimmt das natürlich nicht. Damit das Ganze nachhaltig ist, gehören lokale Produktion mit ökologischer Produktionsweise und saisonalem Konsum zusammen gedacht. In Frankreich wird effektiv versucht, dies aufeinander abzustimmen.

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«In Frankreich sind die Pärke behördlich und politisch bedeutender und einflussreicher als in der Schweiz»

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Wie?

Indem man Betriebe auszeichnet, die sich für die Naturparkidee einsetzen und ihren ganzen Betrieb entsprechend dieser Idee weiterentwickeln. Das ist nicht einfach ein Label, sondern vielmehr ein Management-Instrument, das dem Betrieb Anreize bietet, sich punkto Nachhaltigkeit ständig zu verbessern. Ziel ist es, dass solche Betriebe zu Aushängeschildern und Kommunikatoren der Naturparkidee werden. Das zeichnet das französische Modell der Naturpärke sehr stark aus und ist einmalig. In der Schweiz hingegen kann ein Betrieb gegen den Naturpark sein und seine Produkte trotzdem unter dem Regio Plus-Label vermarkten.

Gibt es weitere, wesentliche Unterschiede zwischen Naturpärken in der Schweiz und in Frankreich?

Grob gesehen sind es zwei: Der wichtigste Unterschied ist wohl, dass die französischen Pärke im administrativ-behördichen und politischen System bedeutender und einflussreicher sind. Sie sind in vielen Arbeitsgruppen vertreten und entwickeln zum Beispiel Landschafts- und Biodiversitäts-Konzepte für und mit den Behörden. Auch in die Raumentwicklung sind sie stark involviert: Oft bekommen die Pärke die Aufgabe, Raumentwicklungsprozesse zu gestalten, mitzuwirken oder mindestens ihr Wissen einzubringen. Die demokratischen Abläufe werden dabei gewahrt: Die Pärke haben kein Durchsetzungsrecht, können aber viel mehr mitgestalten.

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«Die Pärke in Frankreich denken und handeln von Anfang an Sektor übergreifend»

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Ein weiterer Unterschied ist, dass die Pärke in Frankreich wesentlich grösser und besser ausgestattet sind als in der Schweiz. Im Durchschnitt arbeiten pro Park rund 40 Fachpersonen in verschiedenen Bereichen und Projekten. Es können aber auch deutlich mehr sein, wenn es darum geht, grosse, internationale Projekte umzusetzen. Es versteht sich von selbst, dass so einiges mehr möglich ist als in Schweizer Pärken, die über weniger Ressourcen verfügen.

Während in der Schweiz viele Pärke gescheitert sind – vom Thurgauer Seerücken über Neckertal, Rätikon, Adula, Val de Bagne, Thunersee-Hohgant, bis zum Val d'Hérens, etc. – sind in Frankreich immer mehr hinzugekommen und werden grösser. Wie lässt sich das erklären?

Auch in Frankreich gibt es Pärke, die auf Eis gelegt wurden, und Gemeinden, die einem Park nicht beitreten – und zwar nicht nur am Rand eines Parks, sondern mittendrin. Trotzdem vergrössern sich die Pärke in Frankreich tendenziell stetig. Bei der Überprüfung der jeweiligen Charta eines Naturparks stossen meistens mehr Gemeinden hinzu.

Worin besteht ihr Erfolgsgeheimnis?

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Gemeinden und viele lokale Akteure haben gemerkt, dass die Pärke ein gemeindeübergreifendes, pragmatisches und zukunftsgerichtetes Managementinstrument sind. Oft tragen die Pärke in blockierten Situationen zu guten Lösungen bei und entwickeln bei neuen Fragen – etwa der Nutzung erneuerbarer Energien – gute Vorschläge und Projekte. Wichtig dabei ist: Sie denken und handeln von Anfang an Sektor übergreifend, wirken integrierend und orientieren sich am Machbaren. Letzteres trägt ihnen allerdings auch Kritik ein.

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«Das lokale Erbe soll nicht zum Museum werden»

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Sind sie auch erfolgreich, weil sie das sogenannte lokale Erbe hochhalten?

Ihr ideelles Fundament ist sicher ein wichtiger Punkt. Es gründet in der Vorstellung, mit dem lokal vorhandenen «Patrimoine» zu arbeiten. Anders als der deutsche Begriff «Kulturerbe» ist «Patrimoine» auch sehr stark mit der Natur und Landschaft verbunden. Hinter dieser Verankerung stehen viele lokale Akteure und Bewohner*innen. Dieses lokale Erbe soll aber nicht zum Museum werden, sondern die Grundlage für Innovationen aller Art sein: soziale, ökonomische, ökologische, institutionelle und technische Neuerungen.

Heisst das auch, dass sie so viel Wirkung entfalten, wie es den Anschein macht?

Es gibt viele Studien dazu, was die Pärke tun, aber fast keine zu ihrer Wirksamkeit – also darüber, was sich dank den Pärken in diesen Gebieten verändert hat. Zwar liegen gewisse quantitative Analysen vor, die zeigen, dass die französischen Parkgebiete im Durchschnitt bei Themen wie Biodiversität oder Arbeitslosigkeit besser dastehen als andere Gebiete im ländlichen Raum. Ob das tatsächlich vor allem auf die Pärke zurückzuführen ist, lässt sich praktisch kaum nachweisen, weil die Pärke ja bei Weitem nicht die einzigen Akteure in ihren Gebieten sind.  

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«Für eine nachhaltige Entwicklung braucht es mehr als graduelle und punktuelle Veränderungen»

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Verschiedene Studien betonen deshalb ihre «weichen» Wirkungen. Dabei handelt es sich um die erwähnten Prozesse, die die Pärke eingeleitet, gestaltet, umgesetzt oder begleitet haben, die zu Neuerungen und sektorübergreifenden Kooperationen führen. Hier lässt sich sagen, dass die Pärke auf lokaler und regionaler Ebene tatsächlich transformativ wirken. Für eine nachhaltige Entwicklung braucht es aber nicht nur graduelle und punktuelle, sondern massive Veränderungen in der Breite. Hier stossen die Pärke jedoch auf übergeordnete, nationale und internationale Politiken, die ihren Handlungsspielraum stark beeinflussen.

Was wären denn Hebel, damit sie noch wirksamer sein könnten?

Eine Möglichkeit besteht darin, neue Akteure stärker in die Parkarbeit einzubinden, allen voran Jugendliche und junge Erwachsene. Denn sie sind es, die in Zukunft diese Bewegung vorwärtstreiben müssen. Aber auch Grossunternehmen und Industrien, die es in den Pärken gibt, sollten mehr involviert werden.

Ein weiterer Ansatz wäre, das individuelle und kollektive Verhalten und Handeln noch stärker zu thematisieren – bei der Mobilität, dem Ressourcenverbrauch, der Ernährung, etc. – und damit stärker auf Gemeinden und Öffentlichkeit zuzugehen.

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«Sie müssten mutige Lösungsansätze in die Diskussionen einbringen – selbst wenn das nicht allen gefällt»

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Also in ihrem Vorgehen und ihrer Kommunikation offensiver werden?

Ja, das ist ein weiterer Punkt. Die Pärke und auch ihr nationaler Verband sollten aus meiner Sicht ihr Wissen mutiger und breiter kommunizieren, wenn sie ihrer Zeit voraus bleiben wollen. Sie sollten stärker und expliziter aufzeigen, wie sie ihren Eigenanspruch als Labore öffentlicher Politiken, die Mensch und Natur miteinander versöhnen, umsetzen wollen. Der pragmatische und konsensorientierte Weg der kleinen Schritte mit Fokus auf das kurz- und mittelfristig Machbare dürfte auf Dauer nicht genügen, um die ökologische Wende massiv zu beschleunigen.

Kurz: Sie müssten stärker als Visionäre und Vordenker auftreten und mutige Lösungsansätze – auch auf nationaler und internationaler Ebene – in die Diskussionen einbringen, selbst wenn diese nicht allen Akteuren gefallen.

Das Transformationsmodell von Frankreichs Regionalen Naturpärken

Eigene Darstellung

Das Buch

Book cover

In Frankreich haben sich die Regionalen Naturpärke von Bewahrern der Natur zu einflussreichen Akteuren des gesellschaftlichen Wandels entwickelt. Diese erste deutschsprachige Monografie erzählt ihre Geschichte von den Anfängen in den 1960er Jahren bis heute.

 

 

Wissenschaftlicher Artikel in Englisch (PDF, 1.7 MB)