«Wir brauchen eine stärkere internationale Zusammenarbeit, nicht eine schwächere»

Die 7. Ausgabe des UN-Umweltberichts «Global Environment Outlook» (GEO-7) des Umweltprogramms der Vereinten Nationen UNEP ist die bislang umfassendste wissenschaftliche Bewertung des globalen Zustands der Umwelt. Nachdem der Bericht am 9. Dezember in Nairobi vorgestellt wurde, haben wir CDE-Wissenschaftler Henri Rueff, der am GEO-7 als koordinierender Hauptautor beteiligt war, gefragt: Was ist an diesem Bericht neu und welche Wege zeigt er aus den Umweltkrisen auf?

Henri Rueff
«GEO-7 legt den Schwerpunkt darauf, dass wir die Ursachen der Umweltzerstörung bekämpfen und ganze Systeme umgestalten müssen»: Henri Rueff. Foto: CDE


Interview: Gaby Allheilig

Der GEO-7-Bericht des UNEP vergleicht die aktuelle Entwicklung der globalen Umwelt mit «einer alternativen Zukunftsvision». Er fordert ausdrücklich einen transformativen, systemischen Wandel. Was ist daran neu?

Im Vergleich zu früheren Ausgaben des GEO, geht der GEO-7 mit einem grundlegend anderen Ansatz vor: Statt in erster Linie Umweltprobleme und deren Trends zu dokumentierten, konzentriert er sich ausdrücklich auf Lösungen. Er befasst sich mit den globalen Krisen Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Landdegradation und Wüstenbildung sowie Umweltverschmutzung und Abfall – und er legt einen Schwerpunkt auf eine tiefgreifende Umgestaltung von fünf miteinander verbundenen Schlüsselsystemen.

Welchen?

Wirtschaft, Werkstoffe und Abfall, Energie, Ernährung und eine resiliente Umwelt. Der Bericht zeichnet sich durch einen integrierten Ansatz aus. Frühere Umweltpolitiken, die darauf abzielten, die Umwelt zu schützen oder zu sanieren, konnten mit der Geschwindigkeit der Umweltzerstörung nicht Schritt halten. Der GEO-7 legt den Schwerpunkt deshalb auf die Bekämpfung der Ursachen der Umweltzerstörung, und zwar indem wir ganze Systeme umgestalten, statt nur die Symptome zu behandeln.

Der Bericht übersetzt wissenschaftliche Erkenntnisse in wirksame politische Massnahmen. Politischen Entscheidungsträger*innen bietet er einen praktischen Rahmen, wie sich soziale und wirtschaftliche Systeme umgestalten lassen, um auf gerechte Weise ökologische Nachhaltigkeit zu erreichen. Dabei setzt er auf Lösungsmöglichkeiten, die Regierungen und Gesellschaften gesamthaft einbeziehen.

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«Der Bericht ist eine dringende und nachdrückliche Mahnung»

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Im GEO-7 heisst es, dass die meisten international vereinbarten Umweltziele «mit den bestehenden Strategien und Praktiken wahrscheinlich nicht erreicht werden können». Stellt dies frühere globale Konferenzen in Frage?

Globale Konferenzen bleiben unverzichtbare Foren, um gemeinsame Ziele zu setzen und zum Handeln zu mobilisieren. Das Problem sind nicht die Konferenzen selbst, sondern die Diskrepanz zwischen den eingegangenen Verpflichtungen und ihrer Umsetzung. In diesem Sinne sollte der GEO-7 nicht so verstanden werden, dass er globale Konferenzen in Frage stellt. Vielmehr ist er eine dringende und nachdrückliche Mahnung, die deren Bedeutung unterstreicht. Die Erkenntnis, dass die derzeitigen Massnahmen mit der Umweltzerstörung nicht Schritt halten können, bestätigt, dass es eine stärkere internationale Zusammenarbeit braucht, nicht eine schwächere.

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«GEO betrachtet die Umwelt als Ganzes»

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Was macht Sie glauben, dass der GEO-7 sich von anderen globalen Berichten unterscheiden und tatsächlich etwas bewirken wird?

Ich denke, dass es immer schwieriger wird, etwas zu bewirken. Denn alle Agenden sind stark politisiert. Sogar innerhalb dieser Konferenzen – und das haben wir beim gescheiterten Plastikabkommen gesehen – wird es immer schwieriger, einen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten zu erreichen, wenn es um Umweltmassnahmen geht. Deshalb behaupte ich nicht, dass der GEO-7 die Wirkung der globalen Konferenzen revolutionieren wird. Aber die GEO-Berichte betrachten die Umwelt als Ganzes – im Unterschied zu anderen wichtigen Berichten wie dem von IPCC zum Klimawandel oder dem von IPBES zur Biodiversität. Zudem bietet der GEO-7 jetzt Lösungen für tiefgreifende und transformative Veränderungen innerhalb der genannten Systeme an.

Der GEO-7 enthält keine «Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger», wie dies bei solchen Berichten üblich ist, weil ein paar Länder dieser nicht zugestimmt haben. Was heisst das für das Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Politik?

Die Situation im Zusammenhang mit dem GEO-7 offenbart eine beispiellose und beunruhigende Schwachstelle an den Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Politik: Konsensbasierte Prozesse zur Beschlussfassung ermöglichen es einigen wenigen Delegationen, Fortschritte durch formale, statt durch sachliche Einwände zu blockieren. Ohne die Unterstützung der Regierungen verlieren die wissenschaftlichen Erkenntnisse die politische Legitimität, die es für ein kollektives Handeln braucht, und haben daher weniger Gewicht. Das gibt Anlass zur Sorge für künftige globale Verhandlungen über wissenschaftliche Assessments, da diese die Grundlage für weltweite Umweltmassnahmen bilden. Wissenschaftliche Gründlichkeit sollte nicht Gegenstand politischer Verhandlungen sein.

Laut dem Bericht ist die Transformation der Wirtschafts- und Finanzsysteme eine Voraussetzung für die Transformation aller anderen Systeme. Was bedeutet das?

Das heisst, umweltschädliche Subventionen müssen so umgelenkt werden, dass Finanzströme der Umwelt nicht schaden, sondern ihr zugutekommen. Denn die derzeitigen Wirtschafts- und Finanzsysteme treiben die Umweltzerstörung voran, statt sie zu verhindern.

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«Jährlich werden rund 7 Billionen US-Dollar in Aktivitäten investiert, die sich negativ auf die Natur auswirken»

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Haben Sie Zahlen und Fakten, die das belegen?

Ja, und sie sprechen für sich: Jedes Jahr werden weltweit fast 7 Billionen US-Dollar oder etwa 7 Prozent des globalen BIP in Aktivitäten investiert, die sich direkt negativ auf die Natur auswirken. Gleichzeitig beliefen sich die Investitionen in naturbasierte Lösungen im Jahr 2022 auf insgesamt nur etwa 200 Milliarden US-Dollar, also über 30 Mal weniger.

Allein die staatlichen Ausgaben für umweltschädliche Subventionen in den Bereichen Landwirtschaft, fossile Brennstoffe, Fischerei und Forstwirtschaft werden für 2022 auf 1,7 Billionen US-Dollar geschätzt. Die Subventionen für Verbraucher*innen von fossilen Brennstoffen haben sich von 563 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 auf 1,163 Billionen US-Dollar im Jahr 2022 verdoppelt. Damit werden die Umweltziele aktiv untergraben.

Und wie sieht es bei privaten Investitionen aus?

Private Finanzströme, die sich negativ auf die Natur auswirken, betragen jährlich 5 Billionen US-Dollar. Demgegenüber machen derzeit die jährlichen Investitionen in naturbasierte Lösungen nur etwa 133 bis 154 Milliarden US-Dollar aus. Mit anderen Worten: Die schädlichen privaten Finanzströme sind mehr als dreissig Mal so hoch wie die Investitionen in naturbasierte Lösungen.

Solange wir dieses massive Ungleichgewicht nicht beseitigen, müssen andere Transformationen in den Bereichen Ernährung, Energie und Werkstoffe gegen eine erdrückende Flut von falsch ausgerichteten wirtschaftlichen Anreizen ankämpfen.

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«Das heutige Wirtschaftsmodell hat punkto Nachhaltigkeit bereits ein untragbares Niveau erreicht»

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Der GEO-7 schlägt als eine der Gegenmassnahmen vor, soziale und ökologische Externalitäten in Waren und Dienstleistungen einzupreisen. Das wurde bereits versucht – nicht zuletzt mit der Pigou-Steuer –, allerdings ohne grossen Erfolg. Was erhofft man sich, wenn man an diesem Ansatz festhält?

Es stimmt zwar, dass die Bepreisung von Externalitäten mit Herausforderungen verbunden ist und gemischte Erfolge erzielt wurden. Das anerkennt auch der GEO-7. Aber sie als «erfolglos» zu bezeichnen, lässt ausser Acht, dass es auch bedeutende Fortschritte gegeben hat. Einige Länder, die eine CO2-Bepreisung eingeführt haben, konnten ermutigende Resultate bei der CO2-Reduktion erzielen.

Der GEO-7 verdeutlicht, dass die Bepreisung von externen Kosten weiterhin nötig ist, um Umwelteffekte zu bewerten und Märkte auf einen nachhaltigen Weg zu lenken. In der Praxis haben Instrumente wie Umweltsteuern, Abgaben und Umweltlizenzen in vielen Sektoren dazu beigetragen, dass sich die Emissionen und der Ressourcenverbrauch verringern liessen.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel hat die durch die Industrie verursachte Luftverschmutzung in der EU in den letzten zehn Jahren um rund einen Drittel abgenommen. Zum Teil ist das auf Umweltmassnahmen zurückzuführen, die die industrielle Verschmutzung mit Kosten belegen. Der GEO-7 betont auch, dass man die Einnahmen aus solchen Instrumenten dazu verwenden kann, um grüne Investitionen und einkommensschwache Haushalte zu unterstützen. Damit wird die Bepreisung von Externalitäten zu einem Eckpfeiler eines fairen und wirksamen Übergangs, statt zu einer «alten, gescheiterten» Idee.

Und wir müssen dringend handeln, denn das heutige Wirtschaftsmodell hat punkto Nachhaltigkeit bereits ein untragbares Niveau erreicht.

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«Der GEO-7 hat Anliegen und Wissen von indigenen Völkern und lokalen Gemeinschaften umfassend einbezogen»

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Sie haben den CO2-Markt erwähnt. Heute wird dieser weitgehend von Kompensationsprojekten geprägt. Der kürzlich veröffentlichte Land Matrix Analytical Report hat gezeigt, dass allein durch grossflächige Landkäufe bereits 8,8 Millionen Hektar erworben wurden, um CO2-Emissionen zu kompensieren. Solche Projekte finden oft in Regionen statt, in denen Indigene und lokale Gemeinschaften leben. Hat der GEO-7 vor, weiter diesen Weg zu gehen?

Natürlich nicht. Der GEO-7 hat sich bewusst von den üblichen Top-Down-Ansätzen mit Einheitslösungen distanziert. Stattdessen zeichnet er sich durch eine bisher unerreichte Inklusion aus: Zum ersten Mal an einem GEO-Prozess haben indigene Völker und lokale Gemeinschaften aus aller Welt durch eine Reihe von Konsultationen und Dialogen aktiv an der Erarbeitung des Berichts mitgewirkt. Wir hatten auch eine Taskforce für indigenes und lokales Wissen. Diese hat den Prozess über alle Kapitel hinweg begleitet, um sicherzustellen, dass die Anliegen und das Wissen der indigenen Völker und lokalen Gemeinschaften im gesamten Bericht berücksichtigt sind.

Wir sind uns des Risikos von Green Grabbing und falschen Lösungen durch Landkäufe sowie der Schäden, die eine schlecht gemanagte CO2-Kompensation verursachen kann, voll bewusst. Daher denken wir bei der CO2-Kompensation definitiv nicht daran, die CO2-Sequestrierung zu maximieren, um sie zu vermarkten und so viel Gewinn wie möglich zu erzielen.

Sondern?

Der Kohlenstoffmarkt hat sich weiterentwickelt, und es gibt viele andere Modelle für den CO2-Ausgleich, die diese Probleme angehen. Beispielsweise können Politikinstrumente kombiniert und die Einnahmen aus dem CO2-Ausgleich reinvestiert werden, um die Lebensgrundlagen und Gemeinden vor Ort zu unterstützen.

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«Das Geld ist vorhanden, aber es muss in die richtige Richtung gelenkt werden»

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Laut dem Bericht ist es möglich, die nötigen Finanzmittel für Klima- und Biodiversitätsziele zu beschaffen – insgesamt etwa 7 bis 8 Billionen US-Dollar. Woher soll diese Summe kommen?

Die wichtigste Erkenntnis aus dem GEO-7 und ähnlichen Berichten des UNEP ist, dass wir nicht unbedingt «neues Geld» brauchen, sondern dass wir die erwähnten rund 7 Billionen US-Dollar, die jährlich in umweltschädliche Aktivitäten fliessen, umleiten müssen. Das Geld ist vorhanden, aber es muss in die richtige Richtung gelenkt werden, da die Kosten der Untätigkeit weitaus höher sind. Zugleich wächst auch das Interesse von Unternehmen und Finanzinstituten daran, Kapital in umweltfreundliche und ressourceneffiziente Investitionen zu lenken, die den Energieverbrauch und die Betriebskosten senken und neue Marktchancen eröffnen können.

Letztlich erinnert uns der GEO-7 daran, dass unsere Volkswirtschaften zutiefst von den Leistungen der Natur abhängig sind: Die Natur ist unser wichtigster Lieferant und Dienstleister, und wir stehen vor der Wahl, ob wir diese Grundlage weiter untergraben oder sie bewahren.

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«Der Transformationsprozess muss gerecht und inklusiv sein sowie die Menschenrechte achten»

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Die Modellierung von GEO-7 zeigt, dass bis 2050 fast 200 Millionen Menschen aus der Unterernährung und über 100 Millionen Menschen aus extremer Armut herausgeholt werden könnten. Gleichzeitig fordert er «Ausgleichsmechanismen» für die ärmsten und verletzlichsten Bevölkerungsgruppen. Was ist damit gemeint?

Ausgleichsmechanismen sind Strategien und Programme, die sicherstellen sollen, dass der Übergang zu ökologischer Nachhaltigkeit vulnerable Bevölkerungsgruppen nicht unverhältnismässig stark belastet. Eine faire Transformation muss also nicht nur gezielte Kompensationsmassnahmen umfassen, sondern auch einen Prozess, der Gerechtigkeit, Inklusion und die Achtung der Menschenrechte in sektoralen und sektorübergreifenden Politikbereichen verankert.

Haben Sie Beispiele dafür?

Beispiele sind die Umverteilung von Einnahmen aus der CO2-Steuer oder Fonds für einen gerechten Übergang wie in der EU, wo Subventionen für den Ausstieg aus der Kohleförderung bereitgestellt werden. Ein weiteres Beispiel sind Subventionsreform und -schutz wie in Marokko. Dort wurden Subventionen für Butan speziell für einkommensschwache Haushalte beibehalten, weil diese auf den Brennstoff angewiesen sind, um zu kochen.

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«Es ist sehr befriedigend zu sehen, wie relevant Wissenschaft für die globale Governance ist»

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Zum Entstehungsprozess des GEO-7: Waren sich alle Beteiligten in allen Punkten einig oder gab es auch Meinungsverschiedenheiten?

Der Verhandlungsprozess fand zwischen den UN-Mitgliedstaaten statt. Aber fast 300 Wissenschaftler*innen, darunter auch Vertrerter*innen indigener Völker, haben an der Erarbeitung des GEO-7 mitgewirkt. Natürlich gab es hier und da unterschiedliche Meinungen, aber nach meiner persönlichen Erfahrung waren diese sehr marginal.

Sie waren in den letzten drei Jahren einer der koordinierenden Hauptautoren des GEO-7. Was nehmen Sie persönlich aus diesem Prozess mit?

Diese Zusammenkünfte von Wissenschaftler*innen sind zwar herausfordernd, aber auch äusserst spannende intellektuelle Erfahrungen. Es ist ein einzigartiger Moment in einer wissenschaftlichen Laufbahn und viel eindrücklicher als wissenschaftliche Konferenzen. Bei Letzteren nimmt man an seiner thematischen Sitzung teil, präsentiert sein Paper, und alles ist zeitlich genau festgelegt. Man verbringt also die Zeit mit den Wissenschaftler*innen, die man bereits kennt. Bei den GEO-7-Treffen hingegen entwickeln sich neue Freundschaften, weil man sich regelmässig sieht. Die Atmosphäre ist äusserst freundlich und offen. Und es ist ein sehr befriedigendes Gefühl zu sehen, wie relevant Wissenschaft für die globale Governance ist.