«Wir hätten uns vom Bund mehr Mut zu umfassenden Veränderungen erhofft»

Wie will die Schweiz die Ziele der Agenda 2030 der UNO erreichen? Im November 2020 hat der Bund eine entsprechende Strategie in Vernehmlassung geschickt. Das CDE hat das Dokument unter die Lupe genommen und nimmt Stellung zum Entwurf. «Wir sollten jetzt die Gelegenheit nutzen und Institutionen und Verfahren schaffen, die punkto Nachhaltigkeit auch über 2030 hinaus wirken», sagt CDE-Wissenschaftlerin Stephanie Moser. Und man müsse sehr rasch darauf hinarbeiten, dass alle wichtigen Akteure sich für die Nachhaltigkeitsziele engagieren. «Das kann nur gelingen, wenn sie auch die Möglichkeit haben mitzugestalten.»

«Jetzt muss sehr viel gleichzeitig geschehen»: Stephanie Moser. Photo: Manu Friederich


Interview: Gaby Allheilig

Ende 2020 präsentierte der Bund die «Strategie Nachhaltige Entwicklung». In ihr legt er dar, wie die Schweiz die Ziele der Agenda 2030 erreichen will. Das Thema findet aber kaum Eingang in die öffentliche Debatte. Warum sollte man das Strategie-Dokument ernst nehmen?

2015 hat sich die Schweiz bei der Erarbeitung der Agenda 2030 auf internationaler Ebene stark engagiert. Sie hat sich auch dazu bekannt, die Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 erreichen zu wollen. Die Strategie auf nationaler Ebene ist nun ein wichtiges Instrument, um die Ziele der Agenda 2030 auf die konkrete Situation in der Schweiz zu übertragen und entsprechende, angepasste Massnahmen zu ergreifen.

Das Bekenntnis des Bundes, die Ziele der Agenda 2030 umzusetzen, ist fünf Jahre alt. Hat sich das lange Warten auf die Strategie gelohnt?

Nun ja, wie die Ziele genau erreicht werden sollen, dazu sagt die Strategie leider wenig. So wurden zum Beispiel konkrete Aktionspläne explizit ausgeklammert – und es wird auch nicht aufgezeigt, wie diese zustande kommen sollen. Wir hätten uns erhofft, dass genauer ausgeführt wird, wie der Bund die Ziele erreichen will.

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«Die Ziele sind zu punktuell und zu wenig ambitioniert»

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Inhaltlich konzentriert sich die vorgelegte Strategie auf drei Schwerpunkte: «Nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion», «Klima, Energie, Biodiversität» und «Chancengleichheit». Sind Sie mit dieser Auswahl zufrieden?

Es sind auf jeden Fall zentrale Themen für die Schweiz. Aus unserer Sicht wurden dabei aber drei Dinge zu wenig beachtet: Erstens sind die konkreten Ziele zu jedem dieser Schwerpunkte zu eng gefasst, zu punktuell und zu wenig ambitioniert. Wenn wir beispielsweise in Bezug auf nachhaltigen Konsum und nachhaltige Produktion Fortschritte machen wollen, genügt es nicht, primär auf Sensibilisierung und Information der Konsumierenden zu setzen.

Was braucht es denn?

Eine koordinierte Entwicklung. Um beim Beispiel Konsum zu bleiben: Dieser muss zusammen mit einem ökologisch orientierten Umbau unseres Landwirtschafts- und Ernährungssystems, der Wirtschaftspolitik sowie der Siedlungs- und Verkehrsplanung gedacht werden. Denn wenn wir in Richtung nachhaltigen Konsum gehen wollen, sind alle diese Komponenten wichtig. Man müsste also die verschiedenen Ziele bündeln sowie deren Wechselwirkungen, allfällige Zielkonflikte und Synergien aufzeigen. Letztlich ist das eine Voraussetzung dafür, dass wir die Hebel für die nötigen Veränderungen an den richtigen Stellen ansetzen können.

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«Die Wirkung der Schweiz im Ausland wird zu wenig mitgedacht»

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Welches sind die anderen beiden Kritikpunkte?

Der zweite Punkt betrifft die Wirkung der Schweiz im Ausland: Sie wird zu wenig mitgedacht. Gerade beim Konsum verursachen wir einen grossen Teil unseres ökologischen Fussabdrucks im Ausland, weil wir sehr viele Produkte importieren. Auch das Thema Chancengleichheit sollte man in einer Strategie zur nachhaltigen Entwicklung nicht nur mit Blick auf die Schweiz betrachten. Es spielt ja eine wesentliche Rolle, welche Art von Abkommen wir abschliessen und wie wir unsere Handelsbeziehungen gestalten.

Und drittens?

Drittens kritisieren wir das Verfahren. Eine nachhaltige Entwicklung im Sinne der Agenda 2030 lässt sich unseres Erachtens nur umsetzen, wenn man diese als gesamtgesellschaftliche Aufgabe versteht. Da genügt es nicht, wenn der Bund Ziele vorgibt.

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«Wir hätten es begrüsst, wenn die unterschiedlichen Akteure früher einbezogen worden wären»

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Was spricht denn dagegen?

Bei verschiedenen Zielen der Agenda 2030 – beispielsweise zwischen Umwelt- und Wirtschaftszielen – gibt es nicht nur Wechselwirkungen, sondern auch unterschiedliche Interessen. Deshalb braucht es einen Prozess, in dem die wichtigen Akteure aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft zusammen mit den verschiedenen Bereichen der Politik gemeinsam und koordiniert auf die Ziele hinarbeiten. Die Massnahmen müssen so ausgehandelt werden, dass die unterschiedlichen Akteure dahinterstehen und ein Commitment entsteht. Das kann aber nur gelingen, wenn sie auch die Möglichkeit haben mitzugestalten. Wir hätten es deshalb begrüsst, wenn bereits bei der Auswahl der Schwerpunkte ein solcher Prozess stattgefunden hätte.

Und wer sollte einen solchen Prozess anstossen?

Wer, wenn nicht der Bund? Auch hier wünschten wir uns, dass die Strategie griffiger und mutiger wäre. Letztlich geht es ja auch um das Verständnis, für wen die Strategie ist. Gibt sich der Bund eine Strategie für seine bundesinternen Ziele? Oder sieht er sich in der Verantwortung, einen umfassenden Prozess in Richtung nachhaltige Entwicklung in Gang zu bringen? Wir sind der Meinung, der Bund müsste sich stärker an dieser zweiten Rolle orientieren.

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«Wir schlagen einen Nachhaltigkeitsrat mit entsprechendem Beratungsmandat vor»

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Was fordern Sie konkret?

Wie erwähnt, ist es äusserst wichtig, Gremien und Verfahren zu schaffen, die es ermöglichen, gemeinsam zu den nächsten Schritten zu kommen. Beispielsweise um die Aktionspläne zu erarbeiten, die Umsetzung und das Monitoring aufzugleisen sowie eine Bilanz über die Erreichung der Ziele ziehen zu können. Konkret schlagen wir vor, die heutige Begleitgruppe aufzuwerten, dort die relevanten Akteure mit ins Boot zu holen und sie im Sinne eines Nachhaltigkeitsrats mit einem entsprechenden Beratungsmandat auszustatten.

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«Man müsste die für die Nachhaltigkeit zuständigen Stellen auf höchster Staatsebene ansiedeln»

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Ausserdem müsste man auch das bundesinterne «Direktionskomitee Agenda 2030» auf der höchsten Staatsebene, der Bundeskanzlei, ansiedeln und mit mehr Kompetenzen und Mitteln ausrüsten. Heute besteht dieses Komitee aus zwei Delegierten des Bundesrats, die vom Bundesamt für Raumentwicklung bzw. der Politischen Direktion des Aussendepartements aus dafür sorgen sollen, dass nachhaltige Entwicklung stattfindet. Das reicht nicht.

Das CDE schlägt auch vor, die nachhaltige Entwicklung besser in der Gesetzgebung zu verankern – zum Beispiel mit einem Nachhaltigkeitsgesetz. Wozu soll das dienen?

Man könnte damit bundesinterne Verfahren einrichten, mit denen sich wichtige Geschäfte – wie Gesetzgebung und Abkommen – systematisch auf die Nachhaltigkeit hin analysieren liessen. So wie die Wirtschaftlichkeit ja jetzt schon jeweils ein wichtiges Kriterium ist, sollten auch die sozialen und ökologischen Auswirkungen systematisch mitgeprüft werden. Zusammen mit den erwähnten Verfahren würde das die Kohärenz innerhalb der schweizerischen Politik verbessern.

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«Es braucht generell ein höheres Grundtempo»

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Neue Verfahren, Gefässe und Gesetze schaffen: Das erhöht nicht gerade die Geschwindigkeit, mit der die Schweiz die Ziele der Agenda 2030 erreichen kann.

Klar – wir hätten das alles lieber gestern als heute gehabt. Denn die Ziele der Agenda 2030 sind tatsächlich sehr dringlich. Gleichzeitig gibt es auch einen langfristigen Horizont: Wenn wir jetzt bleibende Institutionen und Prozesse schaffen, die alle relevanten Akteure einbeziehen, sind das Errungenschaften, die über 2030 hinauswirken. Das lohnt sich auf jeden Fall, bedeutet aber nicht, dass man in der Zwischenzeit inhaltlich keine Ziele verfolgen soll. Wir sind gefordert, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen.

Mit Blick auf das Tempo, das der Bund bei der Umsetzung der Agenda 2030 bisher angeschlagen hat: Was ist im Moment am Vordinglichsten?

Jetzt muss sehr viel gleichzeitig geschehen. Es braucht Mittel für die Umsetzung der Strategie, es braucht neu zu schaffende Gremien und Verfahren – und zwar sehr schnell – und die Ziele müssen ernsthaft und aufeinander abgestimmt angepackt werden. Es ist generell das Grundtempo, das erhöht werden muss.