«Wirtschaftswachstum alleine führt nicht dazu, dass die ärmsten Menschen profitieren»

«Switzerland first»: So lautete das Fazit zahlreicher Kommentare auf die entwicklungspolitische Strategie, die der Bundesrat Anfang Mai in die Vernehmlassung schickte. Jetzt hat das CDE auf die Botschaft geantwortet: Mit dieser Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit berücksichtige die Schweiz vor allem die eigenen, kurzfristigen Wirtschaftsinteressen und gebe ihre langjährigen Stärken auf. Zudem würden wissenschaftliche Erkenntnisse punkto Armutsbekämpfung ausgeblendet, so CDE-Geschäftsleitungsmitglied Sabin Bieri zur Botschaft.

Sabin Bieri
Sabin Bieri. Foto: Manu Friedrich


Interview: Gaby Allheilig

Die Schweiz will sich in der Entwicklungszusammenarbeit künftig mehr fokussieren. Der Bundesrat schlägt vier Themen vor: Wirtschaftswachstum, Bekämpfung des Klimawandels, Eindämmung der Migration sowie Friedens- und Demokratieförderung. Was passt Ihnen daran nicht?

Eine Fokussierung alleine ist noch keine Strategie. Und die ausgewählten Themen sind aus unserer Sicht weder die, welche die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz besonders auszeichnen, noch jene, die angesichts der dringlichen Probleme des globalen Südens prioritär wären. Die Auswahl ist von den Interessen der Schweiz geleitet. Das ist zwar kein Novum. Aber wir hätten eine ausgewogenere, visionärere Botschaft erwartet; eine, die sich stärker an den Interessen der ärmsten Länder ausrichtet und auch berücksichtigt, dass die «Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt» ausdrücklich in unserer Bundesverfassung festgehalten sind.

Sprechen Sie vor allem das Ziel Wirtschaftswachstum an?

Dieser Teil fällt auf, weil gleichzeitig äusserst wichtige Ziele wie Armutsbekämpfung, Verteilung von Reichtum und Armut, Ernährungssicherung oder ländliche Entwicklung vergleichsweise wenig betont sind. Die Forschung zeigt: Wirtschaftswachstum alleine führt nicht automatisch dazu, dass die ärmsten Menschen profitieren. Vielmehr läuft man Gefahr, dass die Ungleichheiten zunehmen. Das gilt vor allem für Massnahmen, die kapital- und technologieintensiv sind. Zudem machen neue Daten deutlich, dass die Armutsziffern langsamer zurückgehen als erwartet – in Lateinamerika steigen sie sogar.
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«Es ist beunruhigend, dass sich die Entwicklungszusammenarbeit stärker an kurzfristigen politischen Konjunkturen orientiert»

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Bieten neue Technologien nicht gerade grosse Chancen für die Entwicklungsländer?

Doch – aber es ist eine Illusion zu glauben, dass wir damit die Probleme in den ärmsten Staaten lösen, wo oft schon die Basisversorgung fehlt. Niemand kann ernsthaft gegen die Schaffung von Arbeitsplätzen sein, aber die Menschen dort haben oft keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu Bildung und Märkten. Das aber wäre die zentrale Voraussetzung, wenn man Wirkung erzielen will. Im schlimmsten Fall bildet man Menschen aus, die danach keinen Job haben. Deshalb braucht es zusätzliche Massnahmen, welche die Verteilungsfrage angehen und die Tatsache berücksichtigen, dass 80 Prozent der Ärmsten auf dem Land leben.

Und weshalb kritisieren Sie die Fokussierung auf die Eindämmung des Klimawandels und Migration?

Beunruhigend ist, dass sich die Entwicklungszusammenarbeit stärker an kurzfristigen politischen Konjunkturen orientiert. Als Folge davon kann sie nur beschränkt einen Beitrag an die grösseren strategischen Ziele leisten, welche die Schweiz sich auf die Fahne geschrieben hat, sei dies die Armutsbekämpfung oder die nachhaltige Entwicklung.

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«Zur politischen Kohärenz finden sich in der Botschaft keine konkreten Anhaltspunkte»

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Die Anpassung an den Klimawandel ist schon länger ein Ziel der Entwicklungszusammenarbeit. Das funktioniert aber nur, wenn man das Thema nicht isoliert anpackt, sondern mit der Armutsbekämpfung verknüpft. Denn oft stehen sich da unterschiedliche Interessen gegenüber, etwa wenn man die Wirtschaft ankurbeln will und dafür Wald zugunsten von Landwirtschaftsflächen oder für die Rohstoffgewinnung abholzt. Und beim Thema Migration ist hinlänglich bekannt, dass Entwicklungszusammenarbeit nicht zu tieferen Flüchtlingszahlen führt.

Die Befürworterinnen und Befürworter der neuen Strategie unterstreichen allerdings, dass die Entwicklungszusammenarbeit dank der thematischen Fokussierung an Effizienz gewinnt. 

Hier fliesst eine Vorstellung von Effizienz ein, bei der die Rendite der Investition am meisten zählt. Wenn man Schrauben herstellt oder Autos produziert, mag das stimmen. Eine wirkungsvolle Entwicklungszusammenarbeit folgt jedoch nicht dieser Logik. Hier geht es um langjährige Zusammenarbeit mit Partnern, die gemeinsame Definition von Zielen, den Aufbau des notwendigen Wissens aller betroffenen Kreise, das Lernen aus Fehlern, etc. All das sind Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung. Und ausserdem: Wenn man schon von Effizienz spricht, müsste man endlich aus den politischen Silos ausbrechen und darauf hinarbeiten, dass die verschiedenen Politikfelder sinnvoll miteinander verknüpft werden.

Zum Beispiel?

Heute betreibt die Schweiz eine Landwirtschafts- und Handelspolitik, die den wirtschaftspolitischen Spielraum gerade jener Länder einschränkt, die in der Entwicklungszusammenarbeit unsere Partner sind. Hier fehlt es tatsächlich an Effizienz, und ich wäre sehr interessiert an konkreten Verbesserungen. Zur politischen Kohärenz finden sich in der Botschaft aber keine entsprechenden Anhaltspunkte.
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«Die Wissenschaft wird stark auf eine Rolle in der Wirkungsmessung reduziert»

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In seiner Vernehmlassungsantwort bemängelt das CDE zudem die fehlende Ausrichtung auf die Ziele der Agenda 2030, zu deren Umsetzung sich die Schweiz verpflichtet hat…

Ja, weil die Schweiz damit eine grosse Chance verpasst. Die Entwicklungszusammenarbeit wäre ein geeignetes Vehikel, um einen Beitrag zu den Zielen der Agenda 2030 zu leisten. Da gibt es echte Knacknüsse zu lösen – etwa wie wir die Ernährungssicherheit für neun Milliarden Menschen erreichen können und zwar mit einer Landwirtschaft, die nicht auf der Übernutzung der Böden oder dem starken Einsatz von Kunstdüngern und Pestiziden beruht.

In der Botschaft des Bundesrats sind die Erkenntnisse der Wissenschaft kaum eingeflossen. Bedeutet das, dass diese keine wichtige Rolle mehr für die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit spielt?

Die Wissenschaft wird tatsächlich stark auf die Rolle reduziert, Indikatoren für die Wirkungsmessung aufzustellen und deren Einhaltung zu überprüfen. Ganz abgesehen davon, dass hier ein veraltetes Bild der Entwicklungszusammenarbeit anklingt; die Wirkung der Entwicklungszusammenarbeit wird schon lange gemessen. Auf der anderen Seite übersieht die Botschaft, dass es dringend Wissenspartnerschaften braucht.
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 «Substanzielle Veränderung kann nur durch den Aufbau von geteiltem Wissen stattfinden»

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Weshalb sind diese so wichtig?

Weil substanzielle Veränderung letztlich nur durch den Aufbau von geteiltem Wissen stattfinden kann. In Afrika zum Beispiel findet der Entwicklungsprozess nicht mehr nach dem Muster der Industrialisierung statt, wie wir ihn aus Europa oder Asien kennen. Also wird man neue Wege finden müssen. Die Digitalisierung alleine wird unsere Probleme nicht lösen. Wir brauchen mehr Menschen, die diese Technologien verstehen, bedienen und gezielt einsetzen können. Dafür benötigt man spezifisches Wissen, das die lokalen oder regionalen Rahmenbedingungen miteinbezieht. Hors-sol-Wissen, das irgendwo entwickelt wurde, und das man einfach auf einen anderen Kontext überträgt, ist nutzlos.
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«Ich fürchte, die geografische Konzentration ist ein Kurzschluss»

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Das CDE kritisiert auch, dass sich die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit aus Lateinamerika verabschiedet und ihr Engagement in Asien deutlich abbaut. Sind Sie gegen eine geografische Konzentration?

Ich fürchte, dass dies ein Kurzschluss ist. Obwohl das SECO da oder dort in Schwellenländern präsent sein wird, gibt es aus meiner Sicht zwei wesentliche Gründe, weshalb der Rückzug aus Lateinamerika und Teilen Asiens zu kritisieren ist: Zum einen gibt man langjährige Partnerschaften preis, in denen man wertvolles Wissen und Erfahrungen aufgebaut hat. Dadurch droht der Schweiz auch ein Reputationsschaden. Der gute Ruf ist sozusagen das Tafelsilber, das man verscherbelt.

Und zum andern?

Mit Blick auf Lateinamerika stellt sich die Frage, ob es in der dortigen aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage der richtige Zeitpunkt ist, sich zurückzuziehen.

Vernehmlassungsantwort des CDE zum Botschaftsentwurf

Anfang Mai hat der Bundesrat den Entwurf für die Botschaft zur Internationalen Zusammenarbeit 2021-2024 in die Vernehmlassung geschickt. Das Centre for Development and Environment (CDE) begrüsst die Mitwirkungsmöglichkeit als wichtigen Schritt zu einer breiten Debatte über die künftige strategische Ausrichtung der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit. Das CDE macht eine zusammenfassende Würdigung und gibt Empfehlungen ab und nimmt Stellung zu Zielen, Themen und der geographischen Orientierung des Botschaftsentwurfs.

Botschaft des Bundesrats vom 2. Mai 2019

Erläuternder Bericht zur internationalen Zusammenarbeit 2021–2024

Gestützt auf Verfassung und Gesetzgebung legen Bundesrat und Parlament alle vier Jahre die strategische Ausrichtung der internationalen Zusammenarbeit (IZA) fest, mit der die Schweiz zur Linderung von Not und Armut in der Welt beiträgt. Für die Jahre 2021–2024 werden folgende Schwerpunkte gesetzt: die Schaffung von Arbeitsplätzen vor Ort, der Kampf gegen den Klimawandel und gegen die Ursachen irregulärer Migration und Zwangsmigration sowie das Engagement für Frieden und Rechtsstaatlichkeit.