«Wir wollen anhand konkreter Beispiele von Commons eine Postwachstumsdebatte initiieren»

Städte sind zu einem der wichtigsten Schauplätze geworden, um Gegensteuer zu steigendem Ressourcenverbrauch und wachsender Ungleichheit zu geben. Commons, Gemeingut-orientierte Initiativen, können hier eine wichtige Rolle übernehmen – und auch ein Ausweg aus der Mietkosten-Explosion sein. Davon ist Jean-David Gerber, Professor am Geographischen Institut der Universität Bern, überzeugt. In einem neuen Forschungsprojekt mit dem CDE untersucht er, warum sich dabei ein Blick nach Ghana lohnt.

«Durch ihre kollektive Dimension können die Commons-Bewegungen als Antidot gegen die Logik der Profitmaximierung wirken»: Jean-David Gerber. Foto: zvg


Interview: Theodora Peter *

Weltweit entwickeln sich Städte hin zu Mega-Cities. Damit steigen auch Mietpreise und Wohnungsnot. Selbst in reichen Ländern wie der Schweiz wird erschwinglicher Wohnraum immer rarer. Warum schaffen es die Städte und Gemeinden nicht, für genügend bezahlbaren Wohnraum zu sorgen?

Damit eine Parzelle neu entwickelt wird, muss sich dies grundsätzlich wirtschaftlich rentieren. Motor der Stadtentwicklung sind die Profitmöglichkeiten der Grundeigentümerinnen und -eigentümer. Deren Investitionen führen zur Aufwertung der bestehenden Bausubstanz und in der Folge zu steigenden Preisen. Natürlich kann die öffentliche Hand hier eingreifen, aber man darf nicht vergessen, dass auch die Stadt von steigenden Preisen profitiert, weil Gutverdienende höhere Steuern bezahlen. Kommt dazu, dass es für die Stadt schwierig ist, eigene Projekte umzusetzen, welche die Interessen von privaten Eigentümerinnen und Eigentümern tangieren. Das ist eine der fundamentalen Herausforderungen der Raumplanung. Die Stadt kann zwar Pläne machen, aber ohne das Mittun von Grundeigentümerinnen und -eigentümern passiert nichts.

Was können bzw. müssen die Städte besser machen?

In der Schweiz gibt es zahlreiche Forderungen, wonach sich die öffentliche Hand stärker einbringen soll. Verlangt wird etwa, durch schnellere Bewilligungsverfahren und weniger Einsprachemöglichkeiten den Wohnungsbau anzukurbeln. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass die Mieten sinken, sobald genügend Wohnungen gebaut sind – gestützt auf den Mechanismus von Angebot und Nachfrage. Ich denke jedoch, dass man enorm viel bauen müsste, um der Tendenz steigender Preise signifikant entgegenzuwirken.

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«Das Gleichgewicht zwischen privatem und öffentlichem Interesse muss immer wieder neu verhandelt werden»

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Was wäre die Alternative?

Als Sozialwissenschafter und Humangeograph interessiere ich mich für die Diskussionen rund um den Umgang mit dem Boden als limitiertes Gut. Bereits vor 80 Jahren forderte der Basler Architekt Hans Bernoulli, den Boden nicht dem freien Markt auszuliefern. Er plädierte für eine Kommunalisierung und die Abgabe von langfristigen Baurechten. Inzwischen wurden in allen grösseren Städten kommunale Volksinitiativen lanciert und angenommen, die nicht mehr, sondern weniger freien Markt verlangen: So wurden in der Stadt Bern Quoten für bezahlbare Wohnungen eingeführt. In Lausanne und in Genf gilt bei Landverkäufen ein Vorkaufsrecht für die öffentliche Hand. In Basel darf die öffentliche Hand den in ihrem Besitz befindlichen Boden nicht veräussern. Ein weiteres, oft gebrauchtes Instrument ist die Vergabe von Baurechten an Non-Profit-Kollektive. Das sind spannende Diskussionen rund um das Gleichgewicht zwischen privatem und öffentlichem Interesse. Dieses Gleichgewicht muss immer wieder neu verhandelt werden.

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«Verschiedene Volksinitiativen zeigen, dass ein Bedarf da ist, die sogenannte ‘Bodenfrage’ erneut zu stellen»

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Wer in der Schweiz das Privateigentum hinterfragt, rührt an ein Tabu und wird gebrandmarkt. Warum ist es so schwierig, zum Thema Vergesellschaftung eine sachbezogene Auseinandersetzung zu führen?

Historisch betrachtet ist die Raumplanung bei den Grundeigentümer-Lobbys immer auf Vorbehalte gestossen. Das Prinzip der Raumplanung wurde 1969 in der Verfassung eingeführt – gleichzeitig mit der Eigentumsgarantie. Eine erste Fassung des Raumplanungsgesetzes scheiterte jedoch 1976 an der Urne, nachdem Immobilienkreise dagegen das Referendum ergriffen hatten. Oberstes Ziel des Raumplanungsgesetzes ist die haushälterische Nutzung des Bodens. Das Gesetz bezweckt, dass die Bauaktivitäten der einzelnen Grundeigentümerinnen und -eigentümer koordiniert werden. Diese sind die eigentliche Zielgruppe der Raumplanung. Gleichzeitig wird Eigentum als Garantie von Freiheit empfunden – und als Schutz gegen Absolutismus.

Eigentum ist auch der Kern unseres ökonomischen Systems. Das erklärt, weshalb die Frage des Eigentums in der Stadtentwicklung so heikel ist. Man berührt hier zentrale Themen der wirtschaftlichen Organisation unseres Systems. Auf der anderen Seite zeigen die erwähnten Volksinitiativen, dass ein Bedarf da ist, die sogenannte «Bodenfrage» erneut zu stellen. Die Gesellschaft entwickelt sich weiter. In den Städten müssen immer mehr Menschen auf begrenztem Raum leben. Die Regeln, die uns ein friedliches Zusammenleben erlauben, werden durch demokratische Prozesse und Gerichtsentscheide an die neuen Gegebenheiten angepasst.

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«Wohnbaugenossenschaften kann man durchaus als dritten Weg zwischen Markt und Staat bezeichnen»

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Aus Ihren wissenschaftlichen Arbeiten geht hervor, dass Sie in selbstorganisierten Kollektiven wie Wohnbaugenossenschaften eine mögliche Lösung sehen, eine Art «dritten Weg», zwischen staatlichen und marktliberalen Positionen.

Wir zeigten in einem 2017 erschienenen Fachartikel auf, dass Wohnbaugenossenschaften in der Schweiz erfolgreich sind, weil sie eine Lösung anbieten, die für das gesamte politische Spektrum annehmbar ist. Für die Linke, weil die Genossenschaften ausserhalb der reinen Marktlogik funktionieren, indem Entscheidungen nach dem Prinzip «ein Mensch, eine Stimme» getroffen werden. Und für die Rechte basiert diese Lösung auf einer Selbstorganisation, mit der sich ein Eingreifen des Staates vermeiden lässt. Das ist eine der Stärken dieses Modells: Alle können dieses Vorgehen akzeptieren, was es mehrheitsfähig macht. Insofern kann man die Wohnbaugenossenschaften durchaus als dritten Weg zwischen Markt und Staat bezeichnen.

Private Investoren treiben in den Städten nicht nur die Wohnpreise in die Höhe, sondern sind letztlich auch Treiber für die Verknappung anderer Ressourcen wie Grünflächen oder Wasser. Angesichts der finanziellen Power von Investoren: Was lässt Sie hoffen, dass Non-Profit-Organisationen der vorherrschenden «Markt»-Logik hier etwas entgegensetzen können?

Bei jeder neuen Entwicklung in einer Stadt steigen die Preise, was zu erhöhtem Ausgrenzungsdruck führt. Seitens der Wissenschaft möchten wir die Auswirkungen dieser Phänomene auf die soziale Nachhaltigkeit empirisch besser verstehen. Dazu haben wir diesen April mit COMMONPATHS ein neues SNF-Forschungsprojekt gestartet. Dabei untersuchen wir die Rolle und die Strategien von kollektiven Organisationsformen, den sogenannten städtischen Commons. Wir unterscheiden in der Stadtentwicklung zwischen Umbruchphasen und stabileren Phasen; in beiden können die Commons eine zentrale Rolle spielen. Die Umbruchphase bezieht sich auf den Zeitpunkt der Planung, also dann, wenn Entscheide über die Neuentwicklung von Parzellen, Blocks oder Nachbarschaften getroffen werden. Durch ihre kollektive Dimension können die Commons-Bewegungen als Antidot gegen die Logik der Profitmaximierung wirken.

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«Lösungen, die Profitmaximierung verhindern, sind konkrete Beiträge zu einer Postwachstums-Gesellschaft»

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Welche Rollen spielen die Commons, also auf das Gemeingut orientierte Initiativen, für eine Postwachstumsgesellschaft?

Im COMMONPATHS-Projekt interessieren wir uns besonders für die Umbruchphasen, in denen neu definiert wird, was sich kollektiv erreichen lässt. Das sind die Zeiträume, in denen soziale Bewegungen und neue Formen von kollektivem Handeln entstehen. Umbruchphasen sind Phasen der Kreativität, in denen neue Ideen aufkommen. Diese müssen in der Folge formalisiert werden und führen zu neuen institutionellen Arrangements. Insofern sind Lösungen, die Profitmaximierung verhindern, konkrete Beiträge zu einer Postwachstums-Gesellschaft. Solche Arrangements sind Inseln in einer wachstumsorientierten Gesellschaft. Im Forschungsprojekt interessiert uns, wie solche Arrangements entstanden sind und wie sie sich etablieren.

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«Unsere Hypothese ist, dass das ‘Customary Law’ in Ghana dem Kollektiv eine wichtigere Rolle ermöglicht als in der Schweiz»

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Dabei untersuchen Sie die Situation in der Schweiz und in Ghana. Weshalb?  

Die Schweiz interessiert als ein Extrembeispiel, weil hier das Privateigentum sehr stark geschützt ist. Aber gleichzeitig kennt die Schweiz auch eine lange Tradition von kollektiven Aneignungsformen von Ressourcen. Denken wir zum Beispiel an die Allmend-Genossenschaften oder an die Burgergemeinden. Sie sind teilweise rechtlich dazu gezwungen, ihr Eigentum zugunsten der Allgemeinheit zu verwalten. Weiter garantiert das schweizerische Zivilgesetzbuch in Artikel 699 den öffentlichen Zugang zu Wald und Weiden. Interessant zu beobachten ist auch, dass alle grösseren Städte eng mit kollektiven Grosseigentümerinnen und -eigentümern zusammenarbeiten – zum Beispiel Bern mit der Burgergemeinde oder Basel mit der Merian-Stiftung. Die Städte Zürich und Biel wiederum besitzen selber viel Land. In Genf ist eine Stiftung Eigentümerin des ganzen Industriegebietes. Die kollektive Dimension ist somit in der Schweiz durchaus vorhanden.

Und weshalb wurde Ghana ausgewählt?

Auch in Ghana sind Eigentumsrechte, welche die privaten Interessen schützen, stark verankert, während die öffentlichen Politiken die öffentlichen Interessen sichern. Daneben gibt es in Ghana aber noch das sogenannte Customary Law, eine Art Gewohnheitsrecht, das die Gruppeninteressen berücksichtigt. Unsere Hypothese ist, dass dieses Customary Law dem Kollektiv eine wichtigere Rolle ermöglicht als in der Schweiz. Übergreifend stellt sich die Frage, wie gemeinschaftsorientierte Prozesse jenseits der Marktlogik die städtische Nachhaltigkeit beeinflussen.

Welche neuen Erkenntnisse erhoffen Sie sich vom Projekt?

Wichtig ist, dass wir damit eine Debatte über das Postwachstum initiieren, und zwar anhand konkreter Beispiele. Das ist eine Stärke von COMMONPATHS: Empirisch zu verstehen, was die Postwachstumsdebatte bringt und zu welchen Organisationsformen sie führen kann.


* Theodora Peter ist freischaffende Journalistin in Bern (www.sprachkraft.ch)

IASC Conference 2023

Die XIX. IASC-Konferenz «The commons we want: between historical legacies and future collective actions» stellt Commons – gemeinschaftlich genutzte und verwaltete Güter – in den Mittelpunkt. Die Konferenz verbindet eine zukunftsorientierte Forschungs- und Praxisperspektive mit dem Blick zurück. Denn viele rechtliche und strukturelle Hinterlassenschaften geben mögliche Entwicklungspfade vor. Dieser Blick zurück hilft, die Commons-Debatte im Kontext der Agenda 2030 zu positionieren und trägt dazu bei, die Transformation hin zu den SDGs zu einem stärker gemeinwohlorientierten, partizipativen Unterfangen zu machen..