Interview: Gaby Allheilig
(Das Interview erscheint Deutsch in leicht gekürzter Form. In voller Länge ist es in Englisch zu lesen)
Im letzten Herbst zeigten Sie sich von der UN-Klimakonferenz in Glasgow enttäuscht. Sie bemängelten, die britische Regierung habe im Vorfeld zu wenig getan, um die Teilnehmerstaaten dazu zu motivieren, die Treibhausgasemissionen tatsächlich zu reduzieren. Wie sehen Sie das punkto Vorbereitungen für die anstehende Biodiversitätskonferenz?
Die Durchführung eines globalen Gipfeltreffens ist für jedes Land eine Herausforderung, nicht nur in Bezug auf die Logistik. Die Verhandlungsphase vor dem Gipfel ist entscheidend; und jedes innenpolitische oder internationale – beispielsweise geopolitische – Problem könnte den Verhandlungsprozess entgleisen lassen. China als Gastgeber befindet sich in einem schwierigen Umfeld, nicht zuletzt auch wegen der wiederholten Verzögerungen durch die Covid-19-Pandemie. Es bleibt zu hoffen, dass China in der Lage sein wird, die Konferenz von allen geopolitischen Herausforderungen abzuschirmen.
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«Wir könnten wertvollen politischen Schwung verlieren»
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China versucht offenbar, die Länder des globalen Südens für ein schwaches Abkommen zu gewinnen. Was können wir unter diesen Umständen von den Verhandlungen erwarten?
Die Biodiversität betrifft – vielleicht noch mehr als das Klima – unser aller Leben, direkt oder indirekt. Der globale Süden weist nach wie vor das grösste Reservoir an biologischer Vielfalt auf unserem Planeten auf. Aber er ist – wie beim Klimawandel – viel stärker vom Biodiversitätsverlust tangiert als der Norden, da ein Grossteil seiner Bevölkerung direkt von der Natur abhängig ist. Ausserdem wissen wir seit langem, dass ein erheblicher Teil des Drucks, dem der Süden punkto Ursachen des Biodiversitätsverlusts ausgesetzt ist, mit internationalen Regeln zusammenhängt – zum Beispiel mit denen des internationalen Handels. Diese Regeln werden meist vom Norden diktiert.
Dass der Süden gezwungen ist, auf Kosten seiner natürlichen Ressourcen zu wachsen, ist eine perverse Situation. Und wenn die in Kunming erzielte Einigung schwach ausfällt, wird der Süden noch stärker in dieser Situation feststecken. Insgesamt denke ich, dass wir den wertvollen politischen Schwung verlieren könnten, der zum Beispiel im Mai 2019 entstand, nachdem IPBES den ersten weltweiten Bericht über den aktuellen Zustand von Biodiversität und Ökosystemleistungen vorgelegt hat.
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«Wir haben viel zu lange in Silos gearbeitet»
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Klima und Biodiversität hängen sehr eng zusammen. Das fliesst zwar inzwischen in die Verhandlungen ein, aber die entsprechenden globalen Konferenzen finden weitgehend in ihren jeweiligen «Silos» statt. Wie sinnvoll ist das?
Dieses Thema beschäftigt die Wissenschaftler*innen schon lange. Ich denke, dass die Wissenschaft in die richtige Richtung pusht, wenn sie die sehr engen Wechselwirkungen zwischen der Klima- und der Biodiversitätskrise hervorhebt, auf die gemeinsamen Faktoren hinweist, die diesen Krisen zugrunde liegen, und zeigt, wie diese Wechselwirkungen die negativen sozialen Auswirkungen verstärken. Es ist auch hilfreich, wenn Wissenschaftler*innen zu Massnahmen aufrufen, die als «positive Kipppunkte» dazu dienen können, transformative Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft zu ermöglichen.
Trotzdem könnten wir natürlich einen riesigen Schritt nach vorn machen, wenn die Klima- und Biodiversitätsgipfel samt ihren jeweiligen Strukturen die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen Biodiversität und Klima berücksichtigen würden. Wir haben schon viel zu lange in Silos gearbeitet. Dieses Problem sollten die politischen Entscheidungsträger auf allen Ebenen angehen.
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«Die sich gegenseitig verstärkenden Klima- und Biodiversitätskrisen lassen sich nicht durch ein Allheilmittel lösen»
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Ende 2020 haben sich Expertinnen und Experten des Weltbiodiversitätsrat IPBES und des Weltklimarats IPCC einen gemeinsamen Workshop abgehalten. Kann die Wissenschaft mit gebündelter Kraft den Durchbruch erreichen, der bisher ausblieb?
Das war der erste Workshop, der vom IPCC und IPBES gemeinsam getragen wurde. Er ermutigte die Akteur*innen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik, Biodiversität, Klima und Gesellschaft als zusammenhängenden Themenkomplex zu betrachten. Ich war am Workshop und dem anschliessenden Workshop-Bericht beteiligt, der einen vielversprechenden Weg in die Zukunft aufzeigt. Ich lade Wissenschaftler*innen und politische Entscheidungsträger*innen dazu ein anzufangen, diesen Nexus-Ansatz zu verwenden und ernsthaft über die wichtigsten Erkenntnisse nachzudenken, die sich aus dieser Perspektive ergeben.
An dem Workshop wurden konkrete Hebel aufgezeigt, die es für eine Veränderung braucht. Darunter auch: Man müsse die verschiedenen Sichtweisen für eine gute Lebensqualität aller berücksichtigen. Warum ist das wichtig, um die Klima- und Biodiversitätskrise anzupacken?
Der Nexus-Ansatz verknüpft Biodiversität, Klima und gesellschaftliche Aspekte. Auch Fragen wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Rechte werden durch die Wechselwirkungen zwischen Klimawandel und Biodiversitätsverlust beeinflusst. Gleichzeitig ist es äusserst wichtig einzusehen, dass die Klima- und Biodiversitätskrise sich nicht mit einem Allheilmittel wie einem technologischen Durchbruch lösen lassen.
Vielmehr kommt es darauf an, umfassende gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen zu identifizieren – und diese dann zu verwirklichen. So sollte man zum Beispiel nicht-hegemoniale Paradigmen bezüglich Wohlbefinden, Fortschritt usw. sowie die grosse Vielfalt an Werten, welche die Menschen mit der Natur verbinden, viel stärker berücksichtigen. Wenn wir das tun, könnten Ideen wie Wohlstand ohne Wachstum gedeihen und die Klima- und Biodiversitätskrise liesse sich – insbesondere im globalen Norden – besser in den Griff bekommen.
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«Die rechtlichen Rahmenbedingungen hinken den wissenschaftlichen Debatten weit hinterher»
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Die Erhaltung der biologischen Vielfalt beinhaltet also nicht nur den Schutz von Arten, Ökosystemen und der genetischen Vielfalt, sondern auch die Umgestaltung unseres Wirtschaftssystems?
Ja. Das Konzept der biologischen Vielfalt wird von verschiedenen Akteur*innen, die ihre eigenen Interessen und Werte vertreten, auf unterschiedliche Weise strategisch eingesetzt. So setzen Naturschützer*innen die Erhaltung wildlebender Arten ganz oben auf die politische Agenda. Andere Kreise wiederum propagieren das Wirtschaftswachstum auf Kosten eines entpolitisierten Biodiversitäts-Konzepts und betrachten die biologische Vielfalt lediglich als Objekt, als Naturkapital, das es optimal zu nutzen gilt – von Menschen und für Menschen. Es ist wichtig, sich der unterschiedlichen Interpretationen des Konzepts der biologischen Vielfalt gewahr zu werden, um beurteilen zu können, was, warum – und für wen – wir bei den Naturschutzbemühungen Prioritäten setzen müssen.
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«Der Grossteil der Naturschutzbewegung hat die biologische Vielfalt traditionell nach ihren eigenen Wertvorstellungen interpretiert»
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In Ihren wissenschaftlichen Arbeiten verweisen Sie darauf, dass sich der Naturschutzgedanke in den Ländern des Nordens noch immer zu stark am kompletten Schutz von Landschaften – also Wildnis ohne menschlichen Einfluss – orientiert. Was ist daran falsch?
Wie gesagt: Es gibt viele Interpretationen der Biodiversität – wozu sie dienen soll, wer von ihr profitieren und wie ihr Nutzen verteilt werden soll. Und es gibt ebenso viele verschiedene Arten von Mensch-Natur-Beziehungen. Der Grossteil der Naturschutzbewegung hat die biologische Vielfalt traditionellerweise nach ihren eigenen Wertvorstellungen interpretiert, ohne zu berücksichtigen, dass es sich dabei um eine sehr spezifische Wertvorstellung handelt, die sich mit vielen anderen nur schlecht vereinbaren lässt.
Das hat zu zahlreichen Konflikten und Ungerechtigkeiten geführt, vor allem im globalen Süden. Jene, die mehr Macht haben, um ihre Weltanschauungen zu legitimieren, sind in der Lage, einen Diskurs und einen Rahmen dafür zu schaffen, warum und für wen Biodiversität wichtig ist. Prinzipiell ist zwar nichts dagegen einzuwenden, unberührte Landschaften zu schützen. Aber die, die das so sehen, müssen anerkennen, dass es auch andere Ansichten gibt, die nicht unbedingt damit übereinstimmen.
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«Indikatoren sind nicht neutral»
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A propos unterschiedlichen Visionen: Gemeinsam mit anderen Forschenden schlagen Sie einen mehrdimensionalen Biodiversitätsindex vor, der die Vielfalt der Werte berücksichtigt, die den Beziehungen zwischen Mensch und Natur zugrunde liegen. Warum braucht es einen weiteren Index für Biodiversität?
Indikatoren sind sehr wichtig. Sie helfen uns, den Status und die Trends der verschiedenen Facetten von biologischer Vielfalt zu verstehen. Wir müssen jedoch beachten, dass Indikatoren keine neutralen Instrumente sind. Vielmehr widerspiegeln sie unsere Vorstellungen darüber, was uns wichtig ist und warum. Deshalb ist es wichtig, sich auf Indikatoren hinzubewegen, die eine Vielzahl von Perspektiven auf die biologische Vielfalt berücksichtigen. Solche Indikatoren sind zwar komplexer und anspruchsvoller, können uns aber auch helfen, den Kompass auf eine nachhaltigere und gerechtere Zukunft auszurichten.
Retten wir damit die Welt?
Kein Indikator wird der perfekte Kompass sein, um die Welt zu retten. Auch die Wissenschaft wird die Welt nicht retten. Selbst die «Rettung der Welt» ist ein schwieriger Begriff. Was retten – und für wen? Die Wissenschaft und alle anderen gesellschaftlichen Akteur*innen, denen die Biodiversität, das Klima und soziale Aspekte wie Gerechtigkeit am Herzen liegen, müssen tiefer gehende Diskussionen führen – indem sie diese Herausforderungen miteinander verknüpfen. Die Covid-19-Pandemie hat uns ja gelehrt, dass wir Gesundheit, Wirtschaft und Umwelt nicht isoliert betrachten dürfen. Wir müssen die Art, wie wir Wissen schaffen, überdenken und dabei berücksichtigen, welchen Fragen und Interessen dieses Wissen dient und was das für die Politik bedeutet.
Weiterführende Lektüre
- Global Assessment Report on Biodiversity and Ecosystem Services
- 10 Facts About Land Systems for Sustainability
- IPBES-IPCC Co-Sponsored Workshop Report on Biodiversity and Climate Change
- Biodiversity and the challenge of pluralism