«Beim Artenschutz müssen wir auch dem indigenen Wissen treu bleiben»

«Die reichen Länder müssen sich fragen, was sie zum Verlust der biologischen Vielfalt beigetragen haben. Das muss nicht verhandelt werden, das können sie selbst überprüfen und sagen: Wir stoppen das»: Das ist die Ansicht von Boniface Kiteme, dem Leiter des Ausbildungs- und Forschungszentrums CETRAD in Kenia, das seit über 30 Jahren mit dem CDE und jetzt auch mit der Wyss Academy for Nature zusammenarbeitet. Mit Blick auf die Verhandlungen an der UN-Biodiversitätskonferenz fragt er: «Welche Rolle sollen die armen Gesellschaften bei der Erreichung der Biodiversitätsziele spielen?»

«Wenn Unternehmen in der Schweiz Pestizide herstellen, die in der Schweiz verboten sind, und diese in Kenia auf den Markt bringen, dann muss die Lösung aus der Schweiz kommen»: Boniface Kiteme. Foto: CDE


Interview: Gaby Allheilig

Sie arbeiten mit dem Ausbildungs- und Forschungszentrum CETRAD in der Region des Mount Kenya, einem Gebiet, das eine hohe Biodiversität aufweist. Der Druck auf diesen Lebensraum hat jedoch stark zugenommen. Wo liegt das Problem?

Die menschlichen Aktivitäten in dieser Region haben deutlich zugenommen: Einerseits weil viele Menschen aus stark besiedelten Gebieten zugewandert sind, andererseits weil sich die Landwirtschaft in Gebiete ausgedehnt hat, die zuvor eine intakte Biodiversität aufwiesen und in denen sich auch Weideflächen und Wasserstellen befanden. Es entstand Druck auf jeden verfügbaren Raum – einschliesslich auf die Routen, auf denen das Vieh aus dem Norden des Landes in den Süden getrieben wurde, sowie auf die bekannten Wanderrouten und Verbreitungsgebiete von Wildtieren. Dieser Druck hat die Vernetzung der Ökosysteme stark beeinträchtigt und zu ernsthaften Konflikten zwischen Mensch und Wildtieren geführt.

Sprechen Sie die Elefanten an, die in die Felder eindringen?

Es geht auch um die Elefanten, ja. Elefanten kann man nicht einsperren. Sie wissen, wo sie schon vor hundert Jahren durchgezogen sind und benutzen diese Routen weiterhin. Aber jetzt stehen dort Mais-, Kartoffel- oder Bohnenfelder. Die Elefanten kommen und fressen die Ernte auf. So haben sich die Konflikte zwischen Mensch und Wildtieren verschärft, was sich wiederum negativ auf die Lebensgrundlagen, insbesondere die Ernährungssicherheit der Familien, ausgewirkt hat. Aber es betrifft nicht nur die Wanderrouten der Elefanten und anderer Wildtiere, sondern auch die ehemaligen Viehrouten der Pastoralisten. Auch sie wurden durch neue Ackerbau- und Siedlungsgebiete unterbrochen. Das hat die Mobilität, die für den Lebensunterhalt der Pastoralisten unerlässlich ist, stark eingeschränkt.

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«Wir müssen für Wildtiere und Nutztiere wieder durchgängige Wanderrouten herstellen»

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In einem Projekt, das Sie mit Unterstützung der Wyss Academy umsetzen, will man mit gemeinsamen Routen bzw. Wanderkorridoren für Wild- und Nutztiere die Konflikte entschärfen und eine Win-Win-Situation schaffen. Ist das erfolgreich?

Die Initiative für solche Korridore mit Zweifachnutzung wurde in einem Workshop ermittelt. Daran waren die meisten Interessengruppen der Region beteiligt. Ziel der Korridore ist, die Vernetzung der Ökosysteme zu verbessern und Konflikte zu verringern – zwischen Mensch und Wildtieren, aber auch zwischen Pastoralisten und Ackerbauern. Dank der Einbindung der Bevölkerung und Interessengruppen haben wir schon viel erreicht. Es gibt einen allgemeinen Konsens unter allen Beteiligten, dass es diese durchgängigen Korridore wieder braucht. Obwohl es noch viele offene Fragen gibt, bin ich der Ansicht, dass die Initiative vielversprechend ist.

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«Die Pestizideinsätze sind ein enormes Problem»

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In der Region des Mount Kenya hat noch eine andere Entwicklung stattgefunden: Rosen- und Gemüseplantagen für den Export sollen wirtschaftlichen Fortschritt bringen. Wie wirkt sich das auf die Biodiversität aus?

Wir haben mit dem CDE und anderen Forschungsorganisationen gerade eine sechsjährige Forschung zu Ernährungssystemen abgeschlossen.  Die Erkenntnisse, die wir dabei gewonnen haben, sind wirklich beunruhigend – sowohl was die Plantagen als auch was die Kleinbauern betrifft, die für den Export produzieren. Ein enormes Problem sind die Pestizideinsätze: Von 53 Pestiziden, die wir in den landwirtschaftlichen Betrieben identifizierten, sind in der Schweiz beispielsweise nur deren 17 zugelassen; 36 Produkte enthielten hochgefährliche Wirkstoffe. Dazu kommt die Menge der ausgebrachten Mittel: Kulturen wie Brokkoli und Bohnen wurden bis zu 15 Mal pro Anbauzyklus besprüht. Das hat natürlich starke Auswirkungen auf die Biodiversität – beispielsweise die Bienen – aber auch auf die menschliche Gesundheit.

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«Es ist an der Zeit, dass wir uns von dem Modell der intensiven Landwirtschaft verabschieden»

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Was schlagen Sie vor?

Die wirtschaftlichen Überlegungen überwiegen bei weitem alle anderen Erwägungen. Das ist das Hauptproblem. Man will die Produktivität steigern und setzt mit dem Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden auf schnelle „Lösungen“. Doch es ist an der Zeit, dass wir uns von diesem Modell verabschieden und stattdessen den agrarökologischen Ansatz ernsthaft fördern – zusammen mit anderen Praktiken, die dazu beitragen, degradierte Gebiete wiederherzustellen. Das würde auch der biologischen Vielfalt zugute kommen.

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«Wohin schicken wir die betroffenen Menschen, wenn wir 30 Prozent des Landes unter Schutz stellen?»

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Im Hinblick auf die UN-Biodiversitätskonferenz 2022 gibt es Bestrebungen, bis 2030 30 Prozent der Land- und Meeresflächen der Erde zu schützen. Ist "30x30" ein vielversprechender Ansatz für die Region am Mount Kenya?

Wenn wir dieses Ziel verwirklichen wollen, gibt es zwei Dinge, die ich persönlich als zentral erachte. Erstens müssen wir uns fragen: Wo hat der Regen angefangen, auf uns niederzuprasseln? Wie sind wir in die aktuelle Situation geschlittert? Diese Frage sollte unabhängig von allen politischen und wirtschaftlichen Überlegungen beantwortet werden. Denn: Die Weltbevölkerung nimmt weiterhin stark zu, die Nachfrage nach Land und Ressourcen steigt täglich. Aber der verfügbare Raum bleibt gleich gross. Darum ist die nächste Frage: Wohin schicken wir die betroffenen Menschen, wenn wir 30 Prozent des Landes unter Naturschutz stellen? Wenn es darauf eine Antwort gibt, kann man sich in Richtung „30x30“ bewegen. Wenn nicht, dann denke ich, dass wir die Sache nochmal überdenken sollten – sorry.

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«So lange die Bevölkerung wächst, wird Land immer knapper»

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Immerhin könnten die jeweiligen Regierungen nach Lösungen suchen.

In Kenia hatten wir schon Präsidentschaftskandidaten, die nicht gewählt wurden, weil sie ähnlich gelagerte Strategien befürworteten. Eine Regierung könnte destabilisiert werden, wenn sie die Menschen auffordert, die Schutzgebiete zu verlassen. Das wirft die grundlegende Frage auf: Welche Alternative bieten wir ihnen? Natürlich kann man Gespräche führen. Aber solange die Bevölkerung wächst, wird Land immer knapper. Das bringt mich zur nächsten Frage.

Nämlich?

Letzten Sommer diskutierten wir mit den Massai im Laikipia-Plateau über die Korridore. Wir stellten fest, dass sie ein grosses Wissen über den Erhalt von biologischer Vielfalt und den Umgang mit ihrem Lebensraum haben – insbesondere punkto Wanderungsbewegungen von Wild- und Nutztieren. Ihre Tradition etwa, dass ein Mann einer bestimmten Altersgruppe einen Löwen töten muss, bevor er in eine neue Altersklasse aufgenommen wird, mag für Aussenstehende unverständlich sein. Aber es steckt eine Menge Logik dahinter. Denn es ist ein ganz bestimmter Löwe, der getötet werden muss – und welcher das ist, bestimmen die Ältesten. Ein anderer Löwe darf nicht angefasst werden. Warum? Weil die Massai so den Fortbestand der Löwengemeinschaft erhalten wollen. Daher meine Frage: Wie viel indigenes Wissen können, wollen oder müssen wir einbeziehen, um die Ziele des Artenschutzes zu erreichen? Was mich betrifft, so bin ich mir sicher, dass wir diesem Wissen treu bleiben müssen.

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«Wie viel Zeit verlieren wir bei der Erreichung der Ziele, wenn wir die Kluft zwischen Norden und Süden nicht rasch beseitigen?»

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Was erwarten Sie persönlich von der Biodiversitäts-Konferenz?

Wir müssen uns ganz generell fragen, was der Zweck dieser globalen Konferenzen ist. Sind die Wirkungen, die sie erzielen, den Aufwand wert? Ich bin mir da nicht so sicher. Rund um die „30x30“-Debatte gibt es noch andere Dinge, die diskutiert werden und die ich für grundlegend halte: Welche Rolle sollen die armen Gesellschaften bei der Erreichung der Ziele spielen? Wie gehen wir mit den augenfälligen Unterschieden zwischen den beiden Welten in Nord und Süd um? Und wie viel Zeit verlieren wir bei der Erreichung der Ziele, wenn wir diese Kluft nicht rasch beseitigen?

Was müssen die reichen Länder also tun, damit Entwicklungsländer ihre Biodiversität erhalten können?

Die reichen Länder müssen sich fragen, was sie zum Verlust der biologischen Vielfalt beigetragen haben. Das muss nicht verhandelt werden, das können sie selbst überprüfen und sagen: Wir stoppen das. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn Unternehmen in der Schweiz Pestizide herstellen, die in der Schweiz verboten sind, und diese in Kenia auf den Markt bringen, dann muss die Lösung aus der Schweiz kommen. Zudem haben die reichen Länder technisches Know-how, sie haben mehr finanzielle Mittel zur Verfügung – all das gilt es zu nutzen.

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«Auch die armen Länder müssen sich fragen, was sie tun können»
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Allerdings möchte ich damit nicht sagen, dass die armen Länder nicht auch selbst handeln können. Auch sie müssen sich fragen, was sie zur heutigen Situation beigetragen haben und was sie tun können. Es braucht nicht für alles finanzielle Mittel, um Fehlentwicklungen rückgängig zu machen.

Also soll jeder für sich schauen?

Das habe ich nicht gesagt. Aber es scheint mir wichtig, dass alle erst einmal überprüfen, wofür sie verantwortlich sind, und ihre eigenen Möglichkeiten ausschöpfen. Und dann stellt sich die Frage: Was müssen wir gemeinsam tun?

 

Weiterführende Lektüre

CDE Policy brief on pesticides

UNO-Biodiversitätskonferenz

Das Übereinkommen über die biologische Vielfalt, auch Biodiversitätskonvention, ist das wichtigste internationale Abkommen zum Schutz der Biodiversität. 2010 wurden an der 10. Konferenz der Vertragsstaaten die Aichi-Ziele verabschiedet, die bis 2020 hätten erreicht werden sollen – aber klar verfehlt wurden. An der 15. Vertragsstaatenkonferenz (COP15) sollte die Nachfolgevereinbarung der Aichi-Ziele verabschiedet werden. Ursprünglich war die COP15 für Oktober 2020 in Kunming, China, geplant. Wegen der Covid-19-Pandemie wurde sie auf Oktober 2021 verschoben. Ein erster Teil der Verhandlungen fand dann als Videokonferenz statt und führte zu einer wenig konkreten Erklärung, bei welcher der Schutz von 30 Prozent der Erdfläche eine zentrale Rolle spielt. Im März 2022 sollen die Verhandlungen in Genf fortgesetzt werden. Danach soll das Nachfolgeabkommen der Aichi-Ziele im April / Mai 2022 bei einem Präsenztreffen verabschiedet werden.

Serie zur Konferenz

Das Centre for Development and Environment (CDE) und die Wyss Academy for Nature der Universität Bern beleuchten in Interviews mit ihren Expert*innen einige der wichtigsten Aspekte der anstehenden Verhandlungen. In Ergänzung dazu möchten wir auch auf die Präsentationen der Online-Tagungen «Swiss Forum on Conservation Biology» SWIFCOB21 und SWIFCOB22 des Forums Biodiversität Schweiz der SCNAT verweisen.