Interview: Gaby Allheilig
Johanna Jacobi, in Ihrer Forschung zu internationalen Ernährungssytemen haben Sie unter anderem den massiv gestiegenen Einsatz von Pestiziden in Bolivien und Kenia untersucht. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?
Besonders auf grossen, exportorientierten Farmen haben wir einen sehr hohen Einsatz von Pestiziden festgestellt. In Bolivien werden auf riesigen Sojafeldern, die Futtermittel für Europa und China produzieren, mehr als 60 verschiedene Pestizide versprüht. Die einheimische Bevölkerung hingegen, die vor allem vom Maisanbau lebt, benutzt wenig bis gar keine Pestizide, wird aber durch den expandierenden Sojaanbau vertrieben. In Kenia benutzen Gemüsefarmen, die nach Europa exportieren, sieben Mal so viele Pestizide wie die Höfe, die Lebensmittel fürs eigene Land herstellen. Davon enthalten die meisten sogenannte hochgefährliche Wirkstoffe, von denen viele in der Schweiz verboten sind. Trotzdem waren alle untersuchten Exportbetriebe mit dem GLOBALG.A.P. -Label für «gute Agrarpraxis» zertifiziert.
Wie erklärt sich der enorme Einsatz von Pestiziden in Entwicklungsländern?
Sowohl unsere wie zahlreiche andere Studien zeigen: Kleinbäuerinnen und -bauern in Südamerika und Afrika setzen immer mehr Pestizide ein, weil sie dahingehend beraten werden. In Kenia haben wir gesehen, wie Kleinbauern von Gemüseexporteuren unter Vertrag genommen werden und unter hohem Pestizideinsatz nur noch Bohnen für Europa produzieren. Wenn es irgendetwas zu bemängeln gibt, bekommen die Bauern nichts.
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«Der durchschnittliche Pestizideinsatz in der Schweiz ist weit höher als der europäische Durchschnitt»
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Produziert die Schweizer Landwirtschaft ökologischer?
Laut den Daten der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO von 2018 liegt der durchschnittliche Pestizideinsatz in der Schweiz mit 4,9 Kilo pro Hektar und Jahr weit über dem weltweiten Durchschnitt von 2,6 Kilo und dem europäischen von 1,7 Kilo. In Europa ist der Pestizidverbrauch nur in Italien, Irland und vor allem den Benelux-Staaten noch höher.
Wie steht es um die direkten gesundheitlichen Folgen für die Kleinbäuerinnen und -bauern?
Sie sind hohen Risiken ausgesetzt. Gemäss Untersuchungen korreliert die Erhältlichkeit solcher Substanzen mit absichtlichen und unabsichtlichen Vergiftungen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass sich jedes Jahr bis zu 168‘000 Menschen mit Pestiziden das Leben nehmen. Und laut einer Studie von 2020 erkranken bis zu 385 Millionen Menschen jährlich an einer Pestizidvergiftung. Besonders das unter anderem von Syngenta vertriebene Paraquat ist hierbei ein Problem. Schon sehr geringe Mengen davon können tödlich wirken.
Fakt ist aber auch, dass die Hälfte aller pflanzenbasierten Kalorien von Reis, Mais und Weizen stammen und drei Viertel der globalen Fleischversorgung mit Schwein, Geflügel, Rind und Büffel gedeckt werden. Trotz aller Probleme, die damit einhergehen: Wie wollen Sie diese Mengen ersetzen?
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«Kleinbäuer*innen produzieren über die Hälfte aller Nahrungsmittel – auf deutlich weniger Fläche»
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Die Produktionsmenge ist global gesehen nicht so sehr das Problem, sondern die Verteilung. Das hat Amartya Sen, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, schon in den 1980ern nachgewiesen. Trotzdem wird das Produktions-Narrativ immer noch verwendet, um die grossflächige industrielle Landwirtschaft zu rechtfertigen. Und das obwohl Kleinbäuerinnen und -bauern weit mehr als die Hälfte aller Nahrungsmittel herstellen. Sie brauchen dafür nur 25 bis 30 Prozent der globalen landwirtschaftlichen Fläche und kommen mit einem Bruchteil der in der industriellen Landwirtschaft eingesetzten Ressourcen aus. Sie sind also ziemlich effizient.
Wie das?
Ihr Anbau basiert vielfach auf agrarökologischen Prinzipien und diese auf der Biodiversität. Mehr Vielfalt wäre auch in der Ernährung dringend notwendig. Heute wird unter enormem Energie- und Flächeneinsatz rund fünfmal mehr Fleisch produziert als ernährungstechnisch sinnvoll wäre, dafür viel zu wenig Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte und andere wesentliche Bestandteile einer gesunden Ernährung.
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«Agrarökologie ist keine Ergänzung, sondern eine Alternative zum heutigen Ernährungssystem»
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Was genau ist unter Agrarökologie zu verstehen?
Agrarökologie ist eine transformative Wissenschaft, Praxis und soziale Bewegung in einem. Als Wissenschaft bedeutet sie, neue Erkenntnisse mit traditionellem Wissen zu verbinden. In der Praxis bedeutet sie, ökologische Prinzipien in nachhaltigen und gerechten Ernährungssystemen anzuwenden. Eines ihrer Hauptprinzipien ist die (Bio-)Diversität – auf dem Landwirtschaftsbetrieb selbst, in unterschiedlichen Landschaften, aber eben auch in den Märkten, den Kulturen und der Ernährung. Diversität bildet Resilienz, nicht nur punkto ökologischer, sondern auch punkto ökonomischer Stressfaktoren. Während der Corona-Krise konnte man ja gut beobachten, wie schnell alles unterbrochen werden kann.
Und was bedeutet Agrarökologie als soziale Bewegung?
Sie entwickelt neue, solidarische Konzepte und Märkte mit dem Ziel, gesunde, fair und überwiegend lokal produzierte Nahrungsmittel aus intakten Ökosystemen allen zugänglich zu machen. Nach diesem Verständnis ist Agrarökologie nicht eine Ergänzung, sondern die selbstbestimmte und zukunftsfähige Alternative zum gegenwärtigen Ernährungssystem. Denn es reicht nicht, so zu tun, als könnte man daran oder gar nur in der Landwirtschaft einfach ein paar Stellschrauben anpassen. Es braucht eine weitreichende Transformation hin zu einer gesamthaften Ernährungspolitik.
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«Es gibt Alternativen. Das ist aber eine Frage der politischen Ökonomie»
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Das agrarökologische System ist vor allem dort verbreitet, wo es noch viele Kleinbäuerinnen und -bauern gibt. In Ländern wie der Schweiz sind wir jedoch von Nahrungs- und Futtermittelimporten abhängig. Und die sind nur möglich, wenn andernorts deutlich mehr als für die heimische Bevölkerung produziert wird.
Grundsätzlich ist Handel nichts Schlechtes – und auch notwendig. Wir forschen zum Beispiel gerade in einem Projekt des Nationalen Forschungsprogramms «Nachhaltige Wirtschaft» dazu, konkrete Mechanismen für nachhaltigen und fairen Import zu finden, der die Biodiversität fördert statt zerstört. So gibt es durchaus ökologische und faire Produktionsweisen für Soja – die übrigens genauso gut in Europa wie in Südamerika wächst. Zudem gibt es auch andere Futterpflanzen als Alternativen. Unsere Märkte sind aber nicht darauf eingestellt, sondern setzen auf Soja aus Südamerika. Es ist also eine Frage der politischen Ökonomie.
Agrarökologie bedingt also einen fundamentalen Umbau der weltweiten Agrar- und Ernährungssysteme. Wie kommen wir dorthin?
Ein Übergang zur Agrarökologie und zum nachhaltigen Ernährungssystem lässt sich in fünf Stufen beschrieben, die von der landwirtschaftlichen Produktion bis hin zu einer tiefgreifenden Transformation des Ernährungssystems reichen. (siehe Box)