«Die Schweiz hätte jetzt die Chance, eine Ernährungspolitik zu verfassen»

Weltweit produzieren rund 500 Millionen Kleinbäuerinnen und -bauern Nahrung – oft agrarökologisch. Gleichzeitig tragen heute aber nur noch rund 80 Sorten massgeblich zur Welternährung bei, die in der Regel in Monokulturen angebaut werden. Diese Agrarindustrie bedingt den Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden. Doch was würde passieren, wenn man darauf verzichtet? CDE-Wissenschaftlerin Johanna Jacobi über zukunftsfähige Alternativen und den nötigen Umbau zu einem nachhaltigen Ernährungssystem.

«Es reicht nicht, so zu tun, als könnte man einfach ein paar Stellschrauben anpassen»: Johanna Jacobi. Foto: CDE


Interview: Gaby Allheilig

Johanna Jacobi, in Ihrer Forschung zu internationalen Ernährungssytemen haben Sie unter anderem den massiv gestiegenen Einsatz von Pestiziden in Bolivien und Kenia untersucht. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?

Besonders auf grossen, exportorientierten Farmen haben wir einen sehr hohen Einsatz von Pestiziden festgestellt. In Bolivien werden auf riesigen Sojafeldern, die Futtermittel für Europa und China produzieren, mehr als 60 verschiedene Pestizide versprüht. Die einheimische Bevölkerung hingegen, die vor allem vom Maisanbau lebt, benutzt wenig bis gar keine Pestizide, wird aber durch den expandierenden Sojaanbau vertrieben. In Kenia benutzen Gemüsefarmen, die nach Europa exportieren, sieben Mal so viele Pestizide wie die Höfe, die Lebensmittel fürs eigene Land herstellen. Davon enthalten die meisten sogenannte hochgefährliche Wirkstoffe, von denen viele in der Schweiz verboten sind. Trotzdem waren alle untersuchten Exportbetriebe mit dem GLOBALG.A.P. -Label für «gute Agrarpraxis» zertifiziert.

Wie erklärt sich der enorme Einsatz von Pestiziden in Entwicklungsländern?

Sowohl unsere wie zahlreiche andere Studien zeigen: Kleinbäuerinnen und -bauern in Südamerika und Afrika setzen immer mehr Pestizide ein, weil sie dahingehend beraten werden. In Kenia haben wir gesehen, wie Kleinbauern von Gemüseexporteuren unter Vertrag genommen werden und unter hohem Pestizideinsatz nur noch Bohnen für Europa produzieren. Wenn es irgendetwas zu bemängeln gibt, bekommen die Bauern nichts.

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«Der durchschnittliche Pestizideinsatz in der Schweiz ist weit höher als der europäische Durchschnitt»

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Produziert die Schweizer Landwirtschaft ökologischer?

Laut den Daten der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO von 2018 liegt der durchschnittliche Pestizideinsatz in der Schweiz mit 4,9 Kilo pro Hektar und Jahr weit über dem weltweiten Durchschnitt von 2,6 Kilo und dem europäischen von 1,7 Kilo. In Europa ist der Pestizidverbrauch nur in Italien, Irland und vor allem den Benelux-Staaten noch höher.

Wie steht es um die direkten gesundheitlichen Folgen für die Kleinbäuerinnen und -bauern?

Sie sind hohen Risiken ausgesetzt. Gemäss Untersuchungen korreliert die Erhältlichkeit solcher Substanzen mit absichtlichen und unabsichtlichen Vergiftungen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass sich jedes Jahr bis zu 168‘000 Menschen mit Pestiziden das Leben nehmen. Und laut einer Studie von 2020 erkranken bis zu 385 Millionen Menschen jährlich an einer Pestizidvergiftung. Besonders das unter anderem von Syngenta vertriebene Paraquat ist hierbei ein Problem. Schon sehr geringe Mengen davon können tödlich wirken.

Fakt ist aber auch, dass die Hälfte aller pflanzenbasierten Kalorien von Reis, Mais und Weizen stammen und drei Viertel der globalen Fleischversorgung mit Schwein, Geflügel, Rind und Büffel gedeckt werden. Trotz aller Probleme, die damit einhergehen: Wie wollen Sie diese Mengen ersetzen?

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«Kleinbäuer*innen produzieren über die Hälfte aller Nahrungsmittel – auf deutlich weniger Fläche»

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Die Produktionsmenge ist global gesehen nicht so sehr das Problem, sondern die Verteilung. Das hat Amartya Sen, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, schon in den 1980ern nachgewiesen. Trotzdem wird das Produktions-Narrativ immer noch verwendet, um die grossflächige industrielle Landwirtschaft zu rechtfertigen. Und das obwohl Kleinbäuerinnen und -bauern weit mehr als die Hälfte aller Nahrungsmittel herstellen. Sie brauchen dafür nur 25 bis 30 Prozent der globalen landwirtschaftlichen Fläche und kommen mit einem Bruchteil der in der industriellen Landwirtschaft eingesetzten Ressourcen aus. Sie sind also ziemlich effizient.

Wie das?

Ihr Anbau basiert vielfach auf agrarökologischen Prinzipien und diese auf der Biodiversität. Mehr Vielfalt wäre auch in der Ernährung dringend notwendig. Heute wird unter enormem Energie- und Flächeneinsatz rund fünfmal mehr Fleisch produziert als ernährungstechnisch sinnvoll wäre, dafür viel zu wenig Obst und Gemüse, Hülsenfrüchte und andere wesentliche Bestandteile einer gesunden Ernährung.

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«Agrarökologie ist keine Ergänzung, sondern eine Alternative zum heutigen Ernährungssystem»

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Was genau ist unter Agrarökologie zu verstehen?

Agrarökologie ist eine transformative Wissenschaft, Praxis und soziale Bewegung in einem. Als Wissenschaft bedeutet sie, neue Erkenntnisse mit traditionellem Wissen zu verbinden. In der Praxis bedeutet sie, ökologische Prinzipien in nachhaltigen und gerechten Ernährungssystemen anzuwenden. Eines ihrer Hauptprinzipien ist die (Bio-)Diversität – auf dem Landwirtschaftsbetrieb selbst, in unterschiedlichen Landschaften, aber eben auch in den Märkten, den Kulturen und der Ernährung. Diversität bildet Resilienz, nicht nur punkto ökologischer, sondern auch punkto ökonomischer Stressfaktoren. Während der Corona-Krise konnte man ja gut beobachten, wie schnell alles unterbrochen werden kann.

Und was bedeutet Agrarökologie als soziale Bewegung?

Sie entwickelt neue, solidarische Konzepte und Märkte mit dem Ziel, gesunde, fair und überwiegend lokal produzierte Nahrungsmittel aus intakten Ökosystemen allen zugänglich zu machen. Nach diesem Verständnis ist Agrarökologie nicht eine Ergänzung, sondern die selbstbestimmte und zukunftsfähige Alternative zum gegenwärtigen Ernährungssystem. Denn es reicht nicht, so zu tun, als könnte man daran oder gar nur in der Landwirtschaft einfach ein paar Stellschrauben anpassen. Es braucht eine weitreichende Transformation hin zu einer gesamthaften Ernährungspolitik.

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«Es gibt Alternativen. Das ist aber eine Frage der politischen Ökonomie»

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Das agrarökologische System ist vor allem dort verbreitet, wo es noch viele Kleinbäuerinnen und -bauern gibt. In Ländern wie der Schweiz sind wir jedoch von Nahrungs- und Futtermittelimporten abhängig. Und die sind nur möglich, wenn andernorts deutlich mehr als für die heimische Bevölkerung produziert wird.

Grundsätzlich ist Handel nichts Schlechtes – und auch notwendig. Wir forschen zum Beispiel gerade in einem Projekt des Nationalen Forschungsprogramms «Nachhaltige Wirtschaft» dazu, konkrete Mechanismen für nachhaltigen und fairen Import zu finden, der die Biodiversität fördert statt zerstört. So gibt es durchaus ökologische und faire Produktionsweisen für Soja – die übrigens genauso gut in Europa wie in Südamerika wächst. Zudem gibt es auch andere Futterpflanzen als Alternativen. Unsere Märkte sind aber nicht darauf eingestellt, sondern setzen auf Soja aus Südamerika. Es ist also eine Frage der politischen Ökonomie.

Agrarökologie bedingt also einen fundamentalen Umbau der weltweiten Agrar- und Ernährungssysteme. Wie kommen wir dorthin?

Ein Übergang zur Agrarökologie und zum nachhaltigen Ernährungssystem lässt sich in fünf Stufen beschrieben, die von der landwirtschaftlichen Produktion bis hin zu einer tiefgreifenden Transformation des Ernährungssystems reichen. (siehe Box)

Übergang zum agrarökologischen Ernährungssystem

Auf Stufe 1 wird die Produktion effizienter gestaltet, indem der Gesamtverbrauch an Inputs wie Dünger, Treibstoffe oder Pestizide in allen Produktionssystemen – von konventionell bis biologisch – reduziert wird. Auf Stufe 2 werden externe synthetische Inputs durch nachhaltigere ersetzt, zum Beispiel durch organischen Dünger oder Pflanzenschutz. Erst Stufe 3 bringt eine tiefgreifende Veränderung, weil hier eine Umgestaltung der Landwirtschaft nach ökologischen Prinzipien stattfindet, etwa durch Fruchtwechsel, Kompost, Agroforstwirtschaft und Mischkulturen. Auf Stufe 4 werden die Verbindungen zwischen Produzent*innen und Konsument*innen neu aufgebaut. Hier geht es um Märkte für agrarökologische Produkte und um die Solidarität zwischen landwirtschaftlichen Betrieben und anderen Akteuren in der Wertschöpfungskette. Stufe 5 schliesslich beinhaltet eine noch umfassendere Transformation von Politik, Regeln, Institutionen und Kultur hin zu sozialer Gerechtigkeit und Demokratie im Ernährungssystem.

Agrarökologische Transitionen (volle Bildgrösse) (PNG, 370KB)

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«Der Supermarktpreis sagt nicht die Wahrheit über die eigentlichen Kosten aus»

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Schaut man auf die aktuelle Debatte, scheinen wir da noch Lichtjahre davon entfernt zu sein.

Der Verzicht auf synthetische Pestizide, der jetzt in der Schweiz diskutiert wird, ist auf der Ebene 1-2 anzusiedeln. Eine systemische Transformation, also die drei andern Ebenen sind aber ebenso wichtig, weil man beim industriellen Ernährungssystem nicht einfach die Inputs weglassen kann, sondern gleichzeitig die Frage nach der weiteren Umgestaltung stellen muss. Die Schweiz hätte beispielweise jetzt, da die Agrarpolitik sistiert wurde, die Chance eine Ernährungspolitik zu verfassen, welche die Landwirtschaft mit Gesundheit, Landschafts- und Naturschutz, Klima sowie weiteren Bereichen aus Wirtschaft und Arbeit verbindet.

Und wie sieht es finanziell aus: Werden wir uns dann noch Lebensmittel leisten können?

Der Supermarktpreis sagt ja nicht die Wahrheit über die eigentlichen Kosten aus, in die man auch alle Subventionen, Beiträge und den Aufwand für Umwelt- und Gesundheitsfolgen einrechnen müsste. Eine ökologisch und sozialverträgliche Landwirtschaft und Ernährung wäre für alle billiger. Dafür muss sich wirtschaftlich einiges ändern – vom Zugang zu Land bis zu den Margen einiger weniger Akteure im Ernährungssystem. Zum Beispiel darf «Wert» nicht nur monetär besetzt sein, sondern muss auch Biodiversität, Kultur, Ökosystemfunktionen, Gesundheit, Landschaftswahrnehmung etc. einschliessen. Das nenne ich die Dekommodifizierung des Ernährungssystems, also das Mitdenken und Aufnehmen anderer Werte.

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«Mit derselben Denkweise, welche die Probleme geschaffen hat, finden wir keine Lösungen»

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Und das bekäme auch ein Preisschild?

Das ist eine andere Diskussion. Denn Preis und Wert sind nicht dasselbe und sollten nicht miteinander verwechselt werden. Wendet man dieselbe Denkweise an, welche die Probleme geschaffen hat, kann man diese nicht lösen. 

Volksabstimmung Schweiz zu den Agrarinitiativen

Im Hinblick auf die Volksabstimmung vom 13. Juni 2021 über die Trinkwasser-Initiative und die Initiative für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide publiziert das CDE in loser Folge Expert*innen-Interviews. Der Fokus liegt dabei auf Fragen, die in der öffentlichen Debatte derzeit wenig beleuchtet werden.

Beispiele von Forschungsprojekten zum Thema

Das CDE forscht weltweit in zahlreichen Projekten zu Landwirtschaft und Ernährungssystemen. Unter anderem im Projekt «Towards Food Sustainability» des r4d-Programms von Schweizerischem Nationalfonds und DEZA. Ziel des Projekts ist, evidenzbasierte wissenschaftliche Erkenntnisse für die Formulierung und Förderung innovativer Strategien und politischer Handlungsmöglichkeiten bereitzustellen, um die Nachhaltigkeit von Ernährungssystem auf individueller und gesamtwirtschaftlicher Ebene zu verbessern. Das Projekt «Diversifizierte Ernährungssysteme dank nachhaltiger Handelsbeziehungen» wiederum zeigt auf, wie Staaten in ihren Handelsbeziehungen zwischen nachhaltig und weniger nachhaltig produzierten Lebensmitteln unterscheiden können, ohne dabei wichtige Grundsätze des Handelsrechts zu verletzen. Das soll es ermöglichen, künftig Handelsbeziehungen auf die Förderung vielfältiger Ernährungssysteme auszurichten. Das Projekt ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms “Nachhaltige Wirtschaft" (NFP 73).