«Indigenes Wissen kann man nicht in einem Museum aufbewahren»

An der UN-Biodiversitätskonferenz COP15 nächste Woche geht es um viel. Unter anderem um viel Land, das geschützt werden soll. CDE-Wissenschaftlerin Sarah-Lan Mathez-Stiefel, die in den Anden zu biokultureller Vielfalt geforscht hat, sagt: «Wenn wir die Biodiversität erhalten wollen, müssen wir die Zusammenhänge zwischen lokalem Wissen, Werten und Weltanschauungen sowie der biologischen Vielfalt als Ganzes angehen.» Was das für Berggebiete heisst, lotet sie am 6. Dezember in einer öffentlichen Diskussion aus.

«Statt die Natur als etwas vom Menschen Getrenntes zu betrachten, müssen wir den Erhalt der biologischen Vielfalt mit unseren individuellen und gesellschaftlichen Zielen in Einklang bringen»: Sarah-Lan Mathez-Stiefel. Foto: Videostill


Interview: Gaby Allheilig

Kommende Woche beginnt in Montreal die UN-Biodiversitätskonferenz COP15. Eines der Hauptthemen wird die Schaffung von mehr Naturschutzgebieten sein. Schon heute liegt die Hälfte der globalen Biodiversitäts-Hotspots in Berggebieten, in denen oft indigene und lokale Gemeinschaften leben. Welche Auswirkungen hat der Druck auf ihr Land, gerade in den Bergen?

Das hängt sehr stark von der Art der Naturreservate oder Schutzgebiete ab, die eingerichtet werden sollen – und vor allem ob sie den dort lebenden Gemeinschaften den Zugang zu lokalen Ressourcen erschweren oder nicht. Denn obwohl viele dieser Gemeinschaften ihre Lebensgrundlagen an mehreren Orten haben – beispielsweise weil Familienangehörige in eine Stadt gezogen sind oder weil sie, wie Wanderarbeiter, temporär migrieren – hängen die meisten nach wie vor direkt von ihren Landressourcen ab. Wenn dann ein Schutzgebiet geschaffen wird, das ihnen den Zugang zu ihrem traditionell genutzten Land stark einschränkt, kann das dramatische Auswirkungen auf ihre Lebensgrundlagen haben.

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«Man ist vom Ansatz, Naturschutzgebiete als ‘Festung’ zu betrachten, weitgehend abgekommen»

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Angefangen beim ersten Nationalpark der Welt, dem Yellowstone in den USA, sind Naturschutzgebiete in den Bergen weltweit immer wieder zu einer Geschichte der Enteignung geworden. Viele indigene Gemeinschaften wurden so aus ihren angestammten Gebieten verdrängt. Was lässt Sie hoffen, dass es in Zukunft anders läuft?

Das ist tatsächlich eine sehr ernst zu nehmende Herausforderung der Umwelt- und sozialen Gerechtigkeit. Erfreulicherweise hat es in den letzten Jahrzehnten einige Fortschritte im Bereich des Naturschutzes gegeben. Man ist vom Ansatz, Naturschutzgebiete als «Festung» zu betrachten, weitgehend abgekommen, weil man erkannt hat, dass die lokalen Interessensgruppen – einschliesslich der lokalen und indigenen Bevölkerung – in die Bewirtschaftung dieser Gebiete einbezogen werden müssen. Diesbezüglich liegt zwar noch viel Arbeit vor uns. Aber es gibt auch interessante und vielversprechende Beispiele für ein gemeinsames Management oder für Naturschutzgebiete, die Einheimische leiten.

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«Es ist wichtig zu untersuchen, welches Potenzial in den positiven Beispielen steckt»

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Nämlich?

Ich denke da zum Beispiel an das peruanische Amazonasgebiet mit Modellen wie den «Reservas communales» – Schutzgebieten, die von indigenen Gemeinschaften und dem Staat gemeinsam verwaltet werden. Oder an «Amazon Indigenous REDD+». Das ist ein Versuch, indigene Völker aus dem Amazonasgebiet auf gerechte Weise in das internationale REDD+ Programm zu integrieren, ein Programm, das darauf abzielt, via finanzielle Anreize die Abholzung von Wäldern einzudämmen. Diese Beispiele sind noch nicht sehr bekannt. Umso wichtiger ist es zu untersuchen, welches Potenzial sie haben, welche Hindernisse es gibt, wie sie besser unterstützt und anderswo aufgenommen werden könnten.

Dafür wären Sie ja gut positioniert.

Tatsächlich starten wir mit der Wyss Academy ein Forschungsprojekt, in dem wir im peruanischen Amazonasgebiet innovative Modelle für die Gouvernanz von Naturschutzgebieten untersuchen, die von Indigenen geführt sind. Auf dieser Grundlage wollen wir Lehren für die Anwendung in anderen Gebieten wie Madagaskar oder Laos ableiten.
Zudem führen wir nächstens in unserem zweiten MRD-Talk (siehe Box) online einen öffentlichen Dialog, wo wir Forschende, Vertreter*innen indigener Völker, politische Entscheidungsträger*innen und weitere Akteure zusammenbringen. Mit ihnen diskutieren wir, wie indigene Berggemeinschaften und ihr Wissen besser anerkannt und einbezogen werden können.

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«Wir können auch in der Wissenschaft viel von indigenen Gemeinschaften lernen»

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Zeigt der Bedarf an solchen Veranstaltungen und Diskussionen nicht auch, dass bei Naturschutzinitiativen nach wie vor oft die westliche Perspektive dominiert?

Der Naturschutz wird tatsächlich zum grössten Teil davon geprägt, wie wir in der westlich orientierten Wissenschaft und im globalen Norden die biologische Vielfalt verstehen. Statt wie bisher die Natur als etwas vom Menschen Getrenntes zu betrachten, müssen wir versuchen, den Erhalt der biologischen Vielfalt mit unseren individuellen und gesellschaftlichen Zielen in Einklang zu bringen. Das heisst, wir brauchen einen systemischen, ganzheitlichen Ansatz.

Was meinen Sie damit genau?

Indigene Gemeinschaften verstehen Natur in der Regel nicht als etwas, das von der menschlichen Gesellschaft getrennt ist, sondern als etwas, wovon der Mensch ein Teil ist. In der Weltanschauung der Anden beispielsweise stehen die Menschen in einer Beziehung zur natürlichen und zur spirituellen Welt. Und mit diesen Beziehungen sind Werte und Verantwortlichkeiten verbunden. Die Veränderung, wie wir uns als westliche Gesellschaften zur Natur verhalten sollten, wäre also ziemlich tiefgreifend. Und ich denke, da können wir auch in der Wissenschaft viel von indigenen und lokalen Gemeinschaften lernen.

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«Das Konzept der biokulturellen Vielfalt ist interessant»

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Wie denn?

Ermutigende Fortschritte wurden meines Erachtens vor allem im Bereich der Transdisziplinarität erzielt. Genauer: in der Frage, wie sich verschiedene Arten von Wissen – auch von nicht-akademischen Akteuren – in den Forschungsprozess einbeziehen lassen. Das könnte ein Weg sein, um auch die verschiedenen Arten, mit der Natur umzugehen und Naturschutz zu verstehen, anzuerkennen.
Dann ist da die Ethnobiologie als Disziplin, die zwar wenig bekannt ist, die aber viel zu dieser Debatte beitragen kann. Vereinfacht gesagt, handelt es sich dabei um die Untersuchung der Beziehungen zwischen menschlichen Gesellschaften und den Elementen ihrer natürlichen Umgebung. Ein interessantes Konzept, das aus diesem Fachgebiet hervorgegangen ist, ist das Konzept der biokulturellen Vielfalt: Dieses anerkennt die untrennbaren Verbindungen zwischen biologischer und kultureller Vielfalt.

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«Die Stärke des indigenen Wissens beruht auf der Fähigkeit, sich anzupassen»

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Seit diesem Jahr sind Sie Präsidentin der Internationalen Gesellschaft für Ethnobiologie …

Ja, und wir sind sehr besorgt über den Verlust von traditionellem, lokalem und indigenem Wissen und über die Auswirkungen, die das auf die biologische, kulturelle und sprachliche Vielfalt hat. Dass es eindeutige Zusammenhänge zwischen diesem Wissen, den damit verbundenen Werten und Weltanschauungen sowie der biologischen Vielfalt gibt, ist belegt. Wenn wir die Biodiversität erhalten wollen, müssen wir diese Zusammenhänge kennen und uns mit all diesen Dimensionen befassen.
Gleichzeitig dürfen wir indigenes Wissen nicht als etwas Statisches betrachten, das man in einem Museum aufbewahren kann. Die Stärke des indigenen Wissens liegt in seiner Fähigkeit, neue Elemente aufzunehmen, sich anzupassen und auf Veränderungen zu reagieren.

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«Die Agrobiodiversität nimmt in allen Berggebieten ab»

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Konkret scheint lokales Wissen auch im Zusammenhang mit der Klimakrise vermehrt gefragt zu sein – beispielsweise bei der Bewirtschaftung von Berggebieten für die Nahrungsmittelproduktion. Gleichzeitig ist es gerade die Bergbevölkerung in Entwicklungsländern, die am meisten von Lebensmittelknappheit oder Hunger bedroht ist. Wie passt das zusammen?

Die Bergbevölkerung lebt unter sehr rauen Bedingungen und oft in abgelegenen Gebieten. Mit dem Klimawandel haben sich diese Bedingungen zusätzlich verschärft, was sich unmittelbar auf die Ernährungssicherheit dieser Gemeinschaften auswirkt. Zudem nimmt die Agrobiodiversität in allen Berggebieten ab. Einer der Gründe dafür ist die Marktintegration, bei der oft nur ein oder zwei Produkte oder Sorten nachgefragt werden. Das führt zu einem Verlust der Agrobiodiversität, die für die Bevölkerung ein Sicherheitsnetz in Sachen Ernährung gewesen ist.

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«In den Anden können sich viele Einheimische kein Quinoa mehr leisten»

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Ein Beispiel dafür ist der Quinoa-Boom in Bolivien: Er hat gezeigt, dass indigene Gemeinschaften von solchen Hypes nur kurz profitieren und die Probleme damit letztlich zunehmen können. Wo sehen Sie einen Ausweg aus solchen Marktentwicklungs-Fallen?

Meistens, so auch bei Quinoa, liegt das Problem ja nicht beim Produkt als solches, sondern beim Ernährungssystem, in das es eingebettet ist. Quinoa wurde traditionell in artenreichen Rotationssystemen angebaut. Nun hat der Marktboom zu Monokulturen und einer Intensivierung des Anbaus geführt. Das laugt die Böden aus. Soviel zum Thema, wenn man nur die Umweltaspekte anschaut. Aber wenn man die sozio-ökonomischen Aspekte mit einbezieht, gibt es auch Probleme punkto Fairness und Gerechtigkeit. Denn: Wer profitiert von diesen Wertschöpfungsketten?
In den Anden können es sich viele Einheimische – sowohl in der Stadt wie auf dem Land – nicht mehr leisten, Quinoa zu kaufen, weil es zu teuer geworden ist. Meines Erachtens sollten solche lokalen und nahrhaften Produkte unbedingt wieder wertgeschätzt und ihr Konsum gefördert werden. Aber wir müssen Wege finden, die sicherstellen, dass die Wertschöpfungsketten auf nachhaltige und gerechte Weise entwickelt werden. Hier kann und muss sehr viel getan werden.

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«In Peru hat der gastronomische Boom der lokalen Küche dazu beigetragen, dass traditionelle Lebensmittel geschätzt werden»

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Was liegt da aus wissenschaftlicher Sicht drin?

Dafür gibt es viele Ansätze. Am CDE zum Beispiel laufen dazu mehrere Forschungsprojekte, darunter eines zu innovativen Geschäftsmodellen und ihrem Beitrag zur Umweltgerechtigkeit. In einem andern wurde ein Instrument entwickelt, mit dem sich die Nachhaltigkeit von Ernährungssystemen partizipativ bewerten und transformieren lässt. Ein weiteres Team forscht danach, wie Handelsmassnahmen nachhaltige Ernährungssysteme fördern können, usw.

Und welche Möglichkeiten sehen Sie auf gesellschaftlicher Ebene?

Indem lokale Lebensmittel aufgewertet werden – zum Beispiel durch Veränderungen in der Gastronomieszene. Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür ist Peru: Dort hat der gastronomische Boom der lokalen Küche definitiv dazu beigetragen, dass die Bevölkerung traditionelle Lebensmittel als Symbol für etwas Wertvolles und Einzigartiges schätzt. Bewegungen und Netzwerke, die sich für lokale Ernährungssysteme einsetzen, entstehend derzeit fast überall auf der Welt. Während der Covid-Pandemie wurden sie gestärkt. Aus Sicht der Forschung ist es wichtig, solche Initiativen zu untersuchen, um zu verstehen, wie sie unterstützt werden können und unter welchen Bedingungen sie zu lokal verankerten, nachhaltigen und fairen Lebensmittelsystemen beitragen können.

 

MRD Talk, 6. Dezember 2022

Bei den MRD-Talks kommen Autorinnen und Autoren des Fachjournals Mountain Research and Development zu Wort, das am CDE gehostet ist. Am 6. Dezember geht es um die Frage, wie sich Naturschutz und menschliches Wohlergehen in Einklang bringen und gerechtere Naturschutzinitiativen schaffen lassen. Vertreter*innen indigener Völker und Fachleute aus Regionalentwicklung, Politik und Wissenschaft erkunden zusammen mit dem Publikum innovative Naturschutzpraktiken, die sich auf indigenes und lokales Wissen stützen. Die Diskussion findet um 17 Uhr CET online statt.